Virtual Reality wird als neue Zukunftstechnologie in der Gesundheitsversorgung diskutiert. Ihr Einsatz in der Ausbildung der Gesundheitsberufe ist ebenso möglich wie in der Versorgung und Therapie von Pflegebedürftigen und Patienten. Doch ist die neue Technologie nur ein Hype oder birgt sie tatsächlich das Potenzial, die Gesundheitsversorgung zu verbessern? Was ist technisch bereits möglich? Und wie könnte das, was technisch möglich ist, auch in die Versorgungsrealität Einzug halten?
Darüber diskutierten die Teilnehmer des Luncheon Roundtables der Stiftung Münch im Oktober, der erneut online stattfand.
Zu den Teilnehmern gehörten:
- Johannes Höfener, CTO, ReHub GmbH
- Prof. Christoph Runde, Geschäftsführer Kompetenzzentrum für virtuelle Realität und Kooperatives Engineering w.V., Vice President Industry European Virtual Reality Association (EuroVR)
- Heinrich Recken, SZ-Leiter HFH Essen, „Die Pflegebrille“
- Manouchehr Shamsrizi, MPP FRSA, co-founder gamelab.berlin der Humboldt-Universität
- Prof. Frank Steinicke, Leiter Human-Computer Interaction am Fachbereich Informatik der Universität Hamburg
- Dr. Dietrich Stoevesandt, Leiter des Dorothea Erxleben Lernzentrum Halle
sowie von der Stiftung Münch Professor Boris Augurzky (Vorstandsvorsitzender), Eugen Münch (stv. Vorstandsvorsitzender), Dr. Johannes Gruber (Geschäftsführer) und Annette Kennel (Operative Geschäftsführerin).
Virtual Reality ermöglicht es Menschen, in eine künstliche Welt einzutauchen. Um diese zu erkunden und wahrzunehmen, werden immersive Technologien verwendet, also zum Beispiel Datenbrillen oder -handschuhe. Beim Nutzer entsteht über die Immersion ein Präsenzgefühl, das subjektive Empfinden, tatsächlich in der virtuellen Welt zu sein oder in ihr zu interagieren.
Dabei spielen drei Aspekte eine Rolle: Die „place illusion“, bei der der Nutzer den Eindruck hat, in einem Raum zu sein. Er glaubt, dass die Ereignisse wirklich stattfinden („plausibility illusion“) und hat die Illusion, mit anderen Menschen zusammen dort zu sein und zu interagieren („social presence“). Zusammengenommen ergeben diese drei Aspekte das Potenzial der VR für vielfältige Anwendungen.
Professionell wird VR bereits seit den 80er Jahren eingesetzt. Zunächst im militärischen Bereich und in der Raumfahrt, aber auch in der Automobilbranche. Bei der Bahn und im Schiffbau fand sie früh sinnvolle Anwendungsgebiete. Heute hat sie deshalb in diesen Branchen einen hohen Stand der Durchdringung und ist etwa bei der Produktentwicklung nicht mehr wegzudenken, wo auch die Prozesse längst entsprechend angepasst sind.
Die breite Bevölkerung kennt die VR durch Spiele, an denen auch erkennbar ist, wie rasant die Technologie fortschreitet: Während die Figur der Lara Croft in den 90er Jahren noch wie aus einem Zeichentrickfilm anmutet, ist sie mittlerweile fast nicht mehr von einem echten Menschen zu unterscheiden. Dies verdeutlicht den technischen Fortschritt: Seit etwa 100 Jahren verbessert sich die Technologie alle 15 Jahre um den Faktor 1.000. „Das bedeutet, dass wir in den nächsten zehn Jahren in der Lage sein werden, grafische Szenen zu erstellen, bei denen wir nicht mehr wissen, ob sie virtuell oder real sind“, erläuterte ein Teilnehmer der Diskussionsrunde.
Gleichzeitig werden die immersiven Technologien immer besser: Datenbrillen schrumpfen auf die Größe von Kontaktlinsen, Datenhandschuhe werden kleiner, Joysticks unnötig – so wird die Anwendung immer einfacher und intuitiver. Im Fokus der VR steht klar der audiovisuelle Eindruck. Haptik zu erzeugen erweist sich als schwierig, ebenso wie Gerüche, an denen ebenfalls experimentiert wird. „Aber bei Geruch und Geschmack ist es auch die Frage, ob es wirklich einen Nutzen bringt“, so ein Teilnehmer der Diskussionsrunde. Dagegen ist die Entwicklung von „emotionaler VR“ derzeit Gegenstand der Entwicklung. „Gerade für Facebook wäre das ein bahnbrechender Fortschritt“, erläutert ein Diskutant.
Anwendungen von VR in der Gesundheitsbranche: was geht?
Auch in der Gesundheitsbranche bietet die VR vielfältige Möglichkeiten: bei der Ausbildung von Studenten, bei der Planung und Durchführung von Operationen bis hin zur verbesserten Versorgung von Patienten und in der Therapie. Es gibt bereits einige konkrete Anwendungen, bei denen ein positiver Effekt nachgewiesen wurde. Zum Beispiel wurden Patienten mit Brandverletzungen an der Universität Washington bei dem äußerst schmerzhaften Verbandswechsel über eine VR-Brille in eine „Schneewelt“ versetzt. Damit konnte – neben der als positiv empfundenen Ablenkung – vor allem das Schmerzempfinden reduziert werden, was durch einen Gehirnscan nachgewiesen wurde. Auch in der Konfrontationstherapie gibt es bereits zahlreiche Einsatzmöglichkeiten. Bekanntes Beispiel ist die Spinnenphobie, bei der den Patienten unter therapeutischer Aufsicht Spinnen gezeigt werden – mit dem Vorteil, dass deren Aussehen und Bewegungen kontrolliert werden können.
In Deutschland gibt es ebenfalls bereits zahlreiche Anwendungen von VR im Gesundheitswesen. Viele davon setzen auf „Gamification“, um Patienten in der Therapie oder Rehabilitation zu unterstützen. Die Potenziale werteten die Teilnehmer der Diskussionsrunde als enorm. So sei auch denkbar, dass ein Teil der Arztgespräche ergänzend über VR geführt werden und damit Engpässe in der ländlichen Versorgung überbrückt werden könnten. Zudem könne VR „hochgradig inklusiv“ sein, wenn sie etwa für stigmatisierte Krankheitsbilder eingesetzt wird, betonte ein Diskussionsteilnehmer.
„Die Technik entwickelt sich potenziell weiter, aber die Menschen, die sie anwenden, nicht“
Doch während in anderen Branchen die VR nicht mehr wegzudenken ist, hat sie sich Gesundheitsbereich noch nicht so recht durchgesetzt. Einige Anwendungen wurden auf den Markt gebracht, „aber dann liegen sie in der Klinik in der Ecke und keiner benutzt sie“, berichtete ein Diskutant.
„Die Technik entwickelt sich exponentiell weiter, aber die Menschen, die sie anwenden sollen, nicht“, so ein Teilnehmer. Deshalb sei es von entscheidender Bedeutung, dass die Anwender von Anfang an einbezogen werden, sowohl bei der Entwicklung als auch bei der Einführung, die durch intensive Schulungen begleitet werden müsse. Einige der anderen Teilnehmer betonten ebenfalls, dass die „partizipative Entwicklung“ wesentlich für die Akzeptanz einer neuen Technologie sei. Mittlerweile habe bei praktisch allen Forschungsprojekten ein Umdenken stattgefunden und es werde ein „menschenzentrierter Entwicklungsprozess“ aufgesetzt. „Einfach etwas entwickeln und dann den Leuten vor die Nase setzten, klappt nicht“, unterstrich ein Teilnehmer.
Damit die Entwicklung erfolgreich ist und die Potenziale von VR gehoben werden, sei es notwendig, sich auf interdisziplinäre Partnerschaften einzulassen, die über das hinausgehen, was wir heute kennen, betonte ein Diskutant. Das bedeute auch, in völlig neue Nachbarschaften hineinzusehen. „Am weitesten sind Militär, Games und Porno, es wirkt vielleicht einiges nicht ernsthaft, kann man aber ernsthaft nutzen“, erläuterte er. Man dürfe gerade bei VR nicht den Fehler machen, alles neu entwickeln zu lassen. Stattdessen solle man prüfen, was es schon gibt und diese Angebote abändern und anpassen.
Zu alt für neue Technologien oder diffuse Ängste der Professionen – wo liegen die Hindernisse?
Wieder einmal ist die Einführung von vielversprechenden Innovationen im Gesundheitssystem offensichtlich schwieriger als in anderen Branchen. Woran könnte es im Fall von VR liegen? Zum einen am Zugang zur Technik, so ein Teilnehmer. Denn würden etwa Studenten mit VR eine virtuelle Leichenschau durchführen, seien sie sofort begeistert. Doch viele Menschen kommen mit VR-Anwendungen gar nicht in Berührung. Um das zu ändern, gibt es einige Initiativen, bei denen Lastwagen mit verschiedenen Angeboten beladen in ländliche Regionen fahren, um den Menschen vor Ort einen Einblick in die virtuelle Welt zu ermöglichen.
Vielfach wird auch argumentiert, dass die technischen Innovationen für die „digital natives“ kein Problem seien, aber den älteren Menschen nicht zugemutet werden könnten. Diese würden damit nicht zurechtkommen. Doch dass dem nicht so ist, sei mittlerweile erwiesen, betonten Teilnehmer der Diskussion. So hätte es sich zum Beispiel gezeigt, dass gerade 70- bis 90jährigen mit VR sehr gut arbeiten könnten. Denn die Technik ist intuitiv und ermöglicht eine natürliche Interaktion. Widerstand käme dagegen eher von den etablierten Professionen und Akteuren. „Mit denen haben wir viel mehr Diskussionen als mit denen, die die VR am Ende nutzen sollen“, so ein Teilnehmer. Das sei mindestens ärgerlich, wenn nicht gar ein Fehlverständnis: „Es kann nicht Sinn und Zweck dieser Professionen sein, sich Innovationen in den Weg zu stellen.“
Doch sicher spielt als Hemmnis auch der stark regulierte Gesundheitsmarkt eine Rolle, bei dem das Grundprinzip von Angebot und Nachfrage nicht funktioniert. Dennoch sahen einige Teilnehmer der Runde, dass Änderungen bevorstehen. Zum einen würden Menschen immer mehr VR in ihrem Alltag nutzen. Das kann dazu führen, dass sie diese Technik auch von ihrem Arzt oder Therapeuten einfordern. Verstärkend würde sich auswirken, dass durch den technologischen Fortschritt, wie zum Beispiel der künstlichen Intelligenz, die Menschen und Patienten als Nachfrager gestärkt werden. Die Wissensasymmetrie zwischen Arzt und Patient verringert sich. Damit würden Patienten in Zukunft selbstbewusster auftreten und aktiv bestimmte Angebote einfordern. Mit zunehmender Zahl dieser Patienten entsteht ein Druck, der schließlich die Akteure des Gesundheitssystems zur Reaktion zwingen würde, zeigte sich ein Teilnehmer der Diskussion überzeugt.
Datenschutz und ethische Fragen jetzt klären
Eine große Furcht besteht, dass Menschen in eine virtuelle Welt abtauchen und dabei der Datenschutz nicht hinreichend gewährt wird. Doch ein Diskutant betonte: „Die Technologien machen lediglich sichtbar, was schon da ist an Fragestellungen. Also kann es eine Chance sein, jetzt darüber zu diskutieren.“ So müsse man sich mit der Frage auseinandersetzten, wie man damit umgeht, wenn jemand nicht mehr zwischen virtueller und realer Welt unterscheiden könne. Ein Beispiel: Patienten, die nach langer Zeit aus dem Koma erwachen, müssen möglichst schnell viel Input bekommen, um sich gut zu erholen. „In der Realität starren sie aber in diesen entscheidenden Tagen die weiße Wand im Krankenhaus an“, so ein Teilnehmer. Mit VR könnte man ihnen Input geben. „Aber wenn sie nicht wissen, dass sie in einer virtuellen Welt sind – darf ich das dann?“
Auch die Frage, Verstorbene als Avatare zurückzuholen, müsse diskutiert werden. Eine Mutter hatte auf diesem Weg die Interaktion mit ihrer verstorbenen Tochter gesucht. „Das passt nicht zu unserem Verständnis von Pietät“, so der Teilnehmer, es sei aber der Wunsch der Mutter – und eine echte moralphilosophische Herausforderung.
Durch die Daten entstehen zudem Informationen, über deren Verwendung ebenfalls diskutiert werden muss. So zeichnen die Brillen Bewegungen auf. Aus den Profilen kann zum Beispiel abgeleitet werden, wenn sich beim Nutzer eine Demenz abzeichnet. Darf er darüber informiert werden? Und wie beantworte ich diese Frage, wenn der Algorithmus bei dieser Frage nur eine Sicherheit von 70 Prozent bietet? Diese Fragen sollten dringend und ab sofort gestellt und beantwortet werden. „Wenn der Ethikrat das erst 2023 auf die Agenda bekommt ist es schlecht, weil dann alles schon in der Praxis ist“, so ein Teilnehmer. Er mahnte: „Der Datenschutz darf dabei aber nicht dazu führen, dass alles totdiskutiert wird und der Nutzen aus dem Blick gerät. So, wie das gerade bei der Corona-Warn-App passiert ist.“