1.10. 2018
Experten diskutierten beim vierten Gesundheitswirtschaftsdialog NRW der KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, der Hochschule Fresenius und der Stiftung Münch über Vergütungsformen zur Aufhebung der Sektorengrenzen
Sektorenübergreifende Versorgung rückt zunehmend in den Fokus – sie ist nicht nur im Interesse der Patienten, sondern auch nötig, um das Gesundheitssystem effizienter und damit langfristig finanzierbar zu machen. So spricht sich auch die Bundesregierung im Koalitionsvertrag für eine sektorenübergreifende Versorgung aus; eine eigens eingesetzte Bund-Länder-Arbeitsgruppe soll bis zum Jahr 2020 unter anderem Vorschläge für die Einführung einer sektorenübergreifenden Vergütung vorlegen. Um jedoch die Gräben zwischen den ambulant tätigen Ärzten auf der einen und den Krankenhäusern auf der anderen Seite zu überbrücken, bedarf es neuer Vergütungsmodelle, die dies ermöglichen. Wie werden Behandlungen vergütet, die sowohl vom niedergelassenen Arzt als auch im Krankenhaus angeboten werden? Wie kann vermieden werden, dass Kliniken Therapien durchführen, um finanzielle Einbußen zu vermeiden? Sind „Hybrid-DRGs“ zielführend? Oder gibt es andere Wege? Darüber diskutierten beim vierten Gesundheitswirtschaftsdialog NRW am 14. September in Düsseldorf Professor Boris Augurzky (Wissenschaftlicher Geschäftsführer der Stiftung Münch), Dr. Mani Rafii (Mitglied des Vorstands der BARMER), Dr. Theodor Windhorst (Präsident der Ärztekammer Westphalen-Lippe) und Udo Banke (Director Audit, KPMG Dortmund). Moderiert wurde die Veranstaltung von Professor Andreas Beivers (Studiendekan Gesundheitsökonomie der Hochschule Fresenius).
Windhorst sprach sich für die Einführung einer „dritten Säule“ aus – in ihr sollten die reinen Kosten abgebildet sein, die für Behandlungen anfallen, die sowohl ambulante als auch stationäre Anteile beinhalten. Damit wäre es möglich, die tatsächlichen Kosten einer Therapie – wie zum Beispiel des Schlaganfalls – darzustellen. Diese Säule solle mit einem eigenen Budget ausgestattet werden, jedoch ohne dafür zusätzliche Gelder erforderlich zu machen. Es entsteht stattdessen durch eine Umverteilung aus den anderen Säulen als „Nullsummenspiel“. Windhorst betonte, dass Leistungen nicht grundsätzlich strikt in ambulant oder stationär unterteilt werden könnten, sondern auch weitere, medizinische wie sozial-pflegerische Umstände berücksichtigt werden müssten. So sei die Operation einer Leistenhernie bei einem gesunden 20jährigen nicht mit der bei einem 70jährigen Demenzpatienten vergleichbar. Hier würde man „Äpfel mit Birnen vergleichen“, so Windhorst. Die in letzterem Fall höheren Kosten für Betreuung und Unterbringung seien bisher nicht abgebildet. Sie sollten aber in der „dritten Säule“ durch einzelne Komponenten abgerechnet werden können. Er halte es auch für sinnvoll, dass Ärzte in der Praxis Überwachungsbetten vorhalten dürfen, um bei Bedarf eine kurze Überwachung von Patienten zu ermöglichen und damit eine stationäre Unterbringung zu vermeiden.
Dr. Mani Rafii zeigte sich überzeugt, dass viel mehr Leistungen ambulant erbracht werden könnten als bisher – was zu enormen Einsparungen führen könnte. Entscheidend für ihn sei die Definition der Leistung und damit vor allem die Qualität der Versorgung. Besonderes Augenmerk müsste – neben der aktuell diskutierten Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität – auch auf die Indikationsqualität gelegt werden. Qualität habe zwar ihren Preis, doch müsste man vermehrt untersuchen, ob die Qualität der Indikationsstellung überhaupt richtig erfolge. So habe Deutschland derzeit hohe Kosten bei der Versorgung, das Outcome sei jedoch vergleichsweise nicht erwartungsgemäß. Allein Hamburg habe mehr Herzkatheterplätze als ganz Italien, das Outcome liege jedoch trotzdem niedriger. Und auch das bekannte Beispiel der zu häufig – unnötig – durchgeführten Rückenoperationen belege, dass viel Geld in Leistungen fließe, die nicht erforderlich seien und gar die Behandlungsqualität verschlechtern. So werde das System teurer, aber nicht besser. Er bemängelte zudem, dass die Qualität der Versorgung lediglich an der Mortalität gemessen werde: „Wir bewerten doch auch die Qualität unseres Urlaubs nicht danach, ob wir den Flug überlebt haben“, so Rafii.
Rafii plädierte für eine stärkere Berücksichtigung der Indikationsqualität, stärkere Bündelung von Kompetenzen in Zentren und für gezielte Innovationsförderung. Man müsse weg von der Kapazitätsplanung, hin zur Leistungsplanung. Versorgungsziele müssten klar definiert werden. Erst nach der Festlegung der erforderlichen Behandlungspfade sollte dann über die Vergütung gesprochen werden.
Ein Hebel, um das Gesundheitswesen effektiver und effizienter zu machen, sei es, die Nachfragestruktur zu verändern, zum Beispiel durch sektorenübergreifende Versorgung, erläuterte der Gesundheitsökonom Augurzky. Denn aktuell stehe Deutschland zwar im europäischen Vergleich der Zahl der Ärzte und Pflegekräfte pro 1.000 Einwohner zwar immerhin im Mittelfeld, belege aber Platz zwei bei der Anzahl an Krankenhausbehandlungen je Einwohner. Für diesen „Ansturm an Patienten“ reiche dann die Anzahl der Ärzte und Pfleger möglicherweise nicht“, so Augurzky.
Damit die sektorenübergreifende Versorgung gelingen kann, müsse eine passende Vergütung gefunden werden. Denn das Vergütungsmodell bestimme die Ergebnisse. Eine Option könnte sein, nicht leistungs-, sondern populationsbezogene Vergütungsmodelle zu etablieren, ein „Capitation-Modell“, wie es zum Beispiel von Quirónsalud in der Region Madrid praktiziert wird. Die Vergütungspauschale pro Patient sorge dafür, dass die Klinik keinen Anreiz habe, eine Leistung stationär durchzuführen, wenn sie auch ambulant möglich sei – „da müssen wir hin“, betonte der Wissenschaftler. Für direkt auf ganz Deutschland übertragbar halte er dieses Modell jedoch nicht. Ein weiterer Weg bestehe in einer besseren Koordination der Versorgung. Derzeit gebe es in Deutschland viel Blindflug. Hilfe schaffen könnten Patientenlotsen und generell eine stärkere Steuerung der Patienten wie zum Beispiel in Dänemark. Aber auch hier gelte: Koordination muss vergütungsrelevant sein, damit sie passiert.
In der abschließenden Diskussionsrunde waren sich alle Teilnehmer einig, dass die Versorgungsstrukturen geändert werden müssen: „Wir müssen zusammenrücken und die Änderungen gemeinsam angehen“, betonte Windhorst. Neue Strukturen erfordern zunächst Investitionen. Derzeit – und auch in diesem Punkt herrschte Einigkeit unter den Teilnehmern – sei eigentlich viel Geld vorhanden, das aber „in spätrömischer Dekadenz“, wie es Professor Beivers ausdrückte, ausgegeben werde. Dabei stünden kurzfristige Maßnahmen im Zentrum. Es müsse stattdessen in die Zukunft investiert werden – in der absehbar die Mittel knapp werden.
Andreas Beivers, Udo Banke, Boris Augurzky, Mani Rafii, Theodor Windhorst, Julia Kaub