16. Juni 2015
Gesundes Kinzigtal, Gesundheit Oberpfalz Mitte – eine zunehmende Zahl von alternativen Konzepten zeigt, dass neue Modelle der integrierten und patientenzentrierten Versorgung erfolgreich arbeiten können. Die Patienten profitieren von dem integrierten Angebot, die Leistungserbringer von Kostenersparnissen und einer stärkeren Patientenbindung – und die Kostenträger freuen sich ebenfalls über Einsparungen, die durch Prävention und überflüssige Ausgaben durch Behandlung an ungeeigneten Stellen entstehen. Eine win-win-Situation für alle. Doch wieso existieren solche Netzwerke nur vereinzelt? Und ist ihr Erfolg von den besonderen regionalen Gegebenheiten abhängig? Lassen sie sich beliebig kopieren, sogar auf nationaler Ebene standardisieren? Über dieses Thema diskutierten die Teilnehmer des fünften Luncheon Roundtable-Gesprächs der Stiftung Münch.
An der Diskussion nahmen teil:
- Dr. Thomas Bahr, Geschäftsführer Unternehmung Gesundheit Management und Service (UG-MaS)
- PD Dr. Peter Berchtold, Präsident Schweizer Forum für Integrierte Versorgung
- Kerstin Gaede, Chefredakteurin Klinik Management Aktuell
- Helmut Hildebrand, Geschäftsführer Optimedis
- Dr. Siegfried Jedamzik, Geschäftsführer Bayerische Telemedizin-Allianz
- Jochen Roeser, Geschäftsführer Duke Invest
- Prof. Andreas Schmid, Juniorprofessor Gesundheitsmanagement, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften Universität Bayreuth
Sowie von der Stiftung Münch:
- Stephan Holzinger, Vorstandsvorsitzender
- Eugen Münch, stellv. Vorstandsvorsitzender
- Dr. Boris Augurzky, wiss. Geschäftsführer
- Annette Kennel, Referentin Öffentlichkeitsarbeit
Das Thema „regionale und nationale Netzwerke“ berührt das Fundament der Stiftungsarbeit – das Konzept der Netzwerkmedizin. Kernelemente dieses Konzeptes sind bundesweite Netzwerke von Leistungserbringern aller Versorgungsstufen, eine elektronische Patientenakte und ein neuartiges Versicherungsangebot. Patienten sollen nach gezielter Diagnose dort behandelt werden, wo das Angebot zu ihrer Diagnose und dem Schweregrad ihrer Erkrankung entspricht. Perspektivisch sind sogar Vollversorgungsverträge mit den Krankenkassen anzustreben, um die gesamte Versorgung optimal um den Patienten herum aufbauen zu können.
Einzelne regionale Netzwerke verfolgen ähnliche Konzepte – mit großem Erfolg. „Wenn aber das „Gesunde Kinzigtal so erfolgreich ist – wieso gibt es das dann nicht öfter?“, so ein Teilnehmer. „Woran hängt es?“ In einigen Fällen scheiterte die Umsetzung weiterer Netzwerke an Widerständen – sowohl von Seiten der Politik als auch von den ärztlichen Standesvertretungen, aber durchaus auch von Seiten der Kostenträger. „Solange für alle Beteiligten noch alles „rund“ läuft, der persönliche Einsatz und das persönliche Einkommen stimmen, besteht kein echter Änderungswille“, wurde dies pointiert.
Doch macht es überhaupt Sinn, sich von vorne herein nur auf regionale Netzwerke zu konzentrieren? Oder können die erfolgreichen Konzepte auf Bundesebene übertragen werden und so eine flächendeckende integrierte Versorgung erreicht werden? Dieser Punkt wurde sehr intensiv diskutiert. Einige Teilnehmer vertraten die Ansicht, dass man Netzwerke nicht zentralistisch planen könne. Die regionalen Umstände seinen nicht übertragbar und müssten jeweils individuell berücksichtigt werden. Eugen Münch ist dagegen überzeugt, dass die Versorgung bundesweit gedacht werden muss: „Sonst würden nur an kleinen Stellen Fehler des Systems ausgemerzt. Das bestehende System könnte weitgehend erhalten bleiben.“ Er warnte davor, sich daher nicht im „Klein-Klein“ zu verzetteln, sondern ganzheitliche Lösungen anzustreben. Die Mehrheit der Teilnehmer sah es ebenfalls als erstrebenswert und auch möglich an, überregionale Lösungen zu etablieren. Es müsse dazu ein bundesweiter Rahmen geschaffen werden, auf den lokale Netzwerke zugreifen können.
Der Rahmen müsse verschiedene Regionstypen abbilden können. „Die versorgungsrelevante Vernetzung ist dann erfolgreich, wenn sie regionale Spezifitäten aufnehmen kann“, betonte ein Teilnehmer. Gleichwohl können regionale Netzwerke von nationalen Rahmenvorgaben und die Bereitstellung von „Werkzeugen“ profitieren. Rahmenvorgaben von oben seien nach Ansicht von Eugen Münch unabdingbar, zum Beispiel einheitliche Qualitäts- und Erreichbarkeitsvorgaben an das Netzwerk. Diese müssten dynamisch veränderbar sein, d.h. an neue Erkenntnisse aus der Versorgungsforschung angepasst werden können. Um die schleichend stattfindende Rationierung bei GKV-Leistungen abzufangen, müsse auf die Versorgung außerdem eine „floatende Zusatz-PKV“ aufgesetzt werden. Diese wird sinnvollerweise auf nationaler Ebene definiert.
Wettbewerb der Netzwerke muss gewährleistet werden
Ein zentrales Element, damit Netzwerke bundesweit funktionieren können, ist für Münch der Wettbewerb zwischen mehreren Netzwerken und die dazu erforderlichen gesetzlichen Bestimmungen: „Die Politik muss dazu die kartellrechtliche Aufgreifgrenze ändern und dafür sorgen, dass der Kunde das Netzwerk jederzeit wieder verlassen und wechseln kann. Sonst ist der Druck auf die Anbieter, qualitativ hochwertige Leistungen anzubieten, zu gering“, warnt er. Teilnehmer der Diskussion wiesen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass nur fünf Prozent der Versicherten etwa 50 Prozent der Leistungen konsumieren: „Das muss der Wettbewerb berücksichtigen“, so der Teilnehmer. Und sind die Netzwerke in Deutschland einmal etabliert, kann ein weiteres Wachstum sogar durch Export der Netzwerkmodelle erreicht werden.
Wandel von der angebotsorientieren zur nachfrageorientierten Medizin
Die Netzwerkbildung ist aber nicht nur eine Antwort auf eine schleichend stattfindende Rationierung in der Medizin, sondern auch auf sich wandelnde bzw. erstmals sich anders artikulierende Bedürfnisse der Patienten. „Das heutige anbieterzentrierte Gesundheitssystem hat Schwächen, die viele Bürgern nicht mehr hinnehmen wollen“, fasste ein Teilnehmer die aktuelle Situation zusammen. Die erforderlichen Änderungen scheitern an Standesvertretungen, Politik und Leistungserbringern, die ihre Positionen aufgrund ihrer Einzelinteressen nicht aufgeben. Darin waren sich alle Teilnehmer der Diskussionsrunde einig. Anders als in der Vergangenheit können jedoch neue technische Entwicklungen dazu beitragen, diese Widerstände zu überwinden. Mithin stehe ein Paradigmenwechsel bevor. Denn durch die zunehmende Nutzung der Smartphones und den Anspruch der Bevölkerung, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, erhalten die Konsumenten sowie die Patienten zunehmend mehr Macht und Einfluss. Dies wird dazu führen, dass sowohl Politik als auch die Medizin immer mehr vom Nachfrager getrieben und letztlich zum Handeln gezwungen sein werden. „In wenigen Jahren werden 40 Prozent weniger Patienten in den Wartezimmern sitzen, weil sie einen Großteil über digitale Angebote erledigen können“, so ein Teilnehmer. Die Netzwerke werden dabei durch die Digitalisierung zu Akzeleratoren.
Veränderte Ansprüche, verändertes Arztbild
Für den Übergang von der anbieter- zur nachfrageorientierten Medizin als ein Bestandteil bundesweiter Netzwerke ist auch ein Wandel des Arztbildes erforderlich. „Das aktuelle Arztbild ist ein ‚germanisches‘ Phänomen“, unterstrich ein Teilnehmer. Derzeit seien die Ärzte Einzelkämpfer. Durch die zunehmenden Ansprüche der Patienten, zarte gesetzliche Veränderungen, wie etwa das Zweitmeinungsverfahren, wirtschaftlicher Druck sowie eigene sich wandelnde berufliche Vorstellungen würden sie zunehmend „zwischen den Fronten zerrieben.“ Teamorientierung und Patientenorientierung würden das Arztbild von morgen bestimmen. Hinzu kämen der wachsende Einsatz moderner Techniken, der Ausbau der Telemedizin, Digitalisierung, eine Aufhebung des nicht mehr zeitgemäßen Fernbehandlungsverbotes, die insgesamt eine Anpassung des Medizinstudiums nach sich zögen. „Künftig wird der Erstkontakt des Patienten nicht mehr über den Arzt stattfinden, sondern über eine speziell ausgebildete Fachkraft – oder sogar über ein digitales Angebot“, sagte ein Teilnehmer voraus.
Patientenorientierte Angebote müssen geschaffen werden
In der Konsequenz müssen die Angebote in der Zukunft stärker an den Bedürfnissen der Patienten ausgerichtet sein. „Die Bedürfnisse der Menschen müssen in allen Konzepten immer die Grundlage sein. Sonst funktionieren sie nicht“, so Münch. Anbieter können dauerhaft nur erfolgreich sein, wenn sie Leistungen anbieten, die den Bedürfnissen der Konsumenten entsprechen. Gesundheitszentren als Anlaufstellen – virtuell und real – werden hierbei eine größere Rolle spielen. Dabei steht jedoch nicht die stationäre Versorgung per se im Fokus, sondern es gilt vielmehr die Ambulantisierung und die ganzheitliche Sicht auf die Versorgung voranzutreiben. Dies kann durchaus wirtschaftlich für Netzwerke sein. Denkbar wären sogar kostenlose ambulante Leistungen in Netzwerken.
Ziel der Luncheon Roundtable Gespräche ist eine offene Diskussion über völlig neue Formen der Medizin im digitalen Zeitalter. Experten aus verschiedenen Branchen kommen zusammen, um ihre Erfahrungen auszutauschen. Chancen und Risiken von Ansätzen zum Aufbau einer digital vernetzten Medizin werden offen und intensiv diskutiert und persönliche Erfahrungen u.a. über den Umgang mit Widerständen ausgetauscht. Die Erkenntnisse aus den Roundtable Gesprächen werden in regelmäßigen Abständen veröffentlicht und fließen in die weitere Arbeit der Stiftung ein.