02. November 2015
Eine komplizierte Tumorerkrankung zum Maximalversorger, eine Leistenhernie im Grundversorgungskrankenhaus – die gezielte Zuordnung von Patienten zu den richtigen Leistungsbereichen ist ein zentrales Element für das Gelingen der Netzwerkmedizin. Voraussetzung dafür ist eine vorgeschaltete Ambulanz, in der Generalisten die richtige Diagnostik einleiten und den Patienten durch das System führen. Diese Generalisten spielen eine gewichtige Rolle – und benötigen eine besondere Ausbildung, die sie für diese Aufgabe befähigt. Doch diese findet an den Universitäten derzeit nicht statt. Denn die ambulante Medizin führt ein Schattendasein und leidet unter der fehlenden Akzeptanz an den Universitätskliniken.
Welche Aufgaben haben ambulant tätige Ärzte in der Zukunft? Welche Fähigkeiten sind dafür erforderlich und wie können diese in der Ausbildung vermittelt werden? Wie können dabei die modernen Technologien in der Medizin von morgen Eingang finden? Darüber diskutierten die Teilnehmer des 7. Luncheon Roundtable-Gesprächs der Stiftung Münch.
An der Gesprächsrunde waren beteiligt:
- Prof. Dr. H.-J. Buhr, Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Vizeralchirurgie
- Dr. Johannes Gruber, Seufert Rechtsanwälte
- Prof. Dr. H. Haller, Direktor Klinik Nieren- und Hochdruckerkrankungen, Medizinische Hochschule Hannover
- Prof. Dr. A. Jockwig, Vizepräsident und Dekan Gesundheit und Soziales, Hochschule Fresenius
- Raffael Konietzko, stellv. Bundeskoordinator für medizinische Ausbildung, Bundesvertretung der Medizinstudierenden Deutschland
- Prof. Dr. J. Schelling, Leiter Lehrstuhl Allgemeinmedizin Ludwig Maximilians-Universität München
Sowie von der Stiftung Münch:
- Stephan Holzinger, Vorstandsvorsitzender
- Eugen Münch, stellv. Vorstandsvorsitzender
- Dr. Boris Augurzky, wissenschaftlicher Geschäftsführer
- Annette Kennel, Referentin Öffentlichkeitsarbeit
Wie wandelt sich das Berufsbild der Allgemeinärzte?
Eine verstärkte Ambulantisierung, die Feminisierung der Medizin, abnehmende Attraktivität der selbständigen Tätigkeit und der Tätigkeit auf dem Land – diese Trends verändern die Medizin und insbesondere die Allgemeinmedizin. Gleichzeitig fordert die Bevölkerung „Gesundheit für alle“ – und nicht nur eine starke Lenkung der Ressourcen in die Versorgung final erkrankter Menschen, wie es derzeit der Fall ist. Viele Mittel werden heute aufgewandt, um eine Lebensverlängerung von wenigen Monaten zu erreichen.
Erforderlich sind daher zum einen gute Generalisten. Zum anderen müssen die vorhandenen Ressourcen sinnvoll eingesetzt werden. Ein wichtiger Schritt dazu ist es, dass die Patienten den für ihre Erkrankung richtigen Leistungsbereich finden. Deshalb ist es zwingend erforderlich, der stationären Versorgung eine gute Ambulanz vorzuschalten, in der breit ausgebildete Generalisten arbeiten und die Patienten durch das System lotsen. Eugen Münch ist überzeugt, dass sich die Vorhaltung einer solchen Ambulanz auch für die Kliniken rechnet. Denn wenn die Qualität der Behandlung dadurch gesteigert und die Kliniken entsprechend ihren Vorhaltungen ausgelastet würden, sei im bestehenden Vergütungssystem eine Erhöhung des CMI möglich. Damit könne die Ertragskraft der Krankenhäuser gesteigert und schließlich die Finanzierung der Ambulanz gedeckt werden, so Münch. Doch leider bestehe eine starke Diskrepanz zwischen dem Selbstverständnis der Universitätskliniken und der ambulanten Versorgung durch Ärzte, die nicht ernst genommen würden und deren Tätigkeitsfeld als akademische Disziplin praktisch nicht existent sei.
Münch fordert daher, dass die ambulante Medizin Einzug in die wissenschaftliche Ausbildung finden muss. Um dies zu ermöglichen, sollen alle medizinischen Disziplinen gedoppelt werden – einmal für den ambulanten, einmal für den stationären Bereich. Nötig sei dafür an einer Universitätsklinik die Einrichtung von rund 20 Lehrstühlen, die auch durch Hausberufungen besetzt werden können. Damit entstünde eine Fakultät mit wissenschaftlichem Gewicht und neuen Forschungsfeldern, insbesondere in der Versorgungsforschung.
Schnittstellen als Grand Canyons und verkrustete Professionen
Dieses Konzept wurde unter den Teilnehmern diskutiert. Die meisten waren sich darin einig, dass die Allgemeinmedizin nicht ausreichend in Forschung und Lehre berücksichtigt wird. Ein Teilnehmer zeigte sich überzeugt, dass die Schnittstellenforschung entscheidend sei: „Das sind die Grand Canyons“. Dabei müsse definiert werden, wer welche Aufgaben übernimmt und wo und von wem der Patient die erforderlichen Leistungen am besten erhält. „Bisher machen zum Beispiel niedergelassene Ärzte auch Ernährungsberatung, Raucherentwöhnung bis hin zu Koronarsportgruppen. Es stellt sich die Frage, ob dies alles zu seinen Aufgaben gehört und ob er all dies auf Dauer leisten kann.“ In diesem Kontext wurde darüber diskutiert, ob nicht auch die vorhandenen Berufsbilder und ihre Qualifikationsprofile überdacht und angepasst werden müssten. Denn müssen wirklich alle Arbeiten von Ärzten ausgeführt werden? Gäbe es nicht andere Berufsgruppen, die zuarbeiten und unterstützen könnten? „Die politische Verkrustung lässt auch die Berufsbilder verkrusten“, so eine Aussage.
Bei der Ausbildung der Studenten fehle die Problemorientierung: „Unsere Studenten haben ein hervorragendes theoretisches Detailwissen. Doch es fehlt ihnen die praktische Fähigkeit, wie sie dann im konkreten Fall mit dem Patienten umgehen“, so ein Teilnehmer. Die Unsicherheit führe auch dazu, dass junge Assistenten oft „Meister im des Verteilens von Befunden“ seien: „Es wird deshalb viel zu viel gemacht.“ So könne es zum Beispiel sein, dass das einfache Abhören des Patienten mit dem Stethoskop bereits zu einer eindeutigen Diagnose hätte führen können. Doch weil die jungen Ärzte die Erfahrung nicht haben, ordnen sie ein teures MRT an. So entstünden immense Kosten, die nicht erforderlich seinen.
Deshalb sei eine Entschlackung des Studiums von theoretischen Inhalten und im Gegenzug hin zur Vermittlung von Handlungskompetenz erforderlich. Insbesondere problemorientiertes Lernen sei wichtig, um die erforderliche Routine für den Arbeitsalltag zu erlangen. Dabei sollte insbesondere berücksichtig werden, dass im Studium zunächst ein Basiswissen vermittelt werden müsse – aber nicht bereits detaillierte Inhalte von 20 verschiedenen Fachrichtungen. „Im Moment lernen die Studenten vorrangig die Theorie, um am Ende die Examen zu bestehen. Also müssten auch die Prüfungen so angepasst werden, dass sie dem ärztlichen Berufsalltag entsprechen.“
Außerdem kritisierten die Diskutanten, dass die Lehre oft nicht ernst genug genommen würde. „Sie wird immer weiter delegiert und am Schluss erhalten die Studenten nicht selten schlicht ein paar Powerpoint-Folien von einem Assistenten, der dazu verdonnert wurde – dabei können sie nicht ausreichend lernen“. Ein Grund dafür sei die schlechte Vergütung der Lehre. Ein Teilnehmer vertrat die Auffassung, dass die Einheit von Lehre, Forschung und Wissenschaft aufgebrochen werden müsste, um so eine Ausbildung anbieten zu können, die zur jeweiligen angestrebten Aufgabe passe – und auf dieses auch vorbereite.
Ein weiterer Kritikpunkt war die Form, in der noch heute die Studenten unterrichtet werden: Moderne didaktische Methoden haben noch keinen Einzug in die Ausbildung gehalten. „Wir sprechen immer noch von Vorlesung. Wieso muss ich jungen Leuten etwas vorlesen? Das macht keinen Sinn. Sie können das erforderliche selbst lesen – und dann das gezeigt bekommen, was sie erfahren müssen.“ Die Ausbildung hinke – wie auch später die Arbeit im Berufsalltag – weit hinter den Chancen der Nutzung moderner Kommunikationsmittel hinterher und sei „anachronistisch“.
Können die Chancen der Digitalisierung genutzt werden, um Generalisten bei ihrer Arbeit zu unterstützen? Wie muss dies in der Ausbildung abgebildet werden?
Viele der Teilnehmer waren sich einig, dass die Möglichkeiten, die die Digitalisierung bietet, in der Medizin nicht ausreichend ausgeschöpft würden – sowohl in der in der Ausbildung als auch im Berufsalltag. Insbesondere Allgemeinmediziner sind zu sehr damit beschäftigt, relevante Informationen über einen Patienten zusammenzusuchen. Das ist zeitintensiv – und geht sowohl zu Lasten der Ärzte als auch zu Lasten der Patienten. Vereinzelt sammeln Ärzte in ihren Praxen die Daten in Form einer elektronischen Patientenakte – doch diese ende an der Tür der Praxis, so dass die anderen wichtigen Informationen über den Patienten fehlen und aufwändig angefordert werden müssen.
Viele Teilnehmer zeigten sich zudem befremdet darüber, dass die Chancen von Big Data nicht gesehen, sondern vor allem die Risiken wahrgenommen würden. „Stichwort seltene Erkrankungen: wenn man alles zusammenführt, gibt es auf einmal doch 100.000 Fälle weltweit – und nicht nur die zehn, die der Hausarzt gesehen hat.“ Der Umgang mit den immer größeren Wissensmengen müsse ebenfalls vermittelt und Teil der Ausbildung werden.
Doch neben der Ausbildung sei es für eine gute ambulante Versorgung ebenfalls zwingend erforderlich, die Weiterbildung anzupassen und festzulegen. „Für ein Ambulantorium ist ein Curriculum erforderlich“. Besonders eine strukturierte Weiterbildung in einem Verbund, bei der auch Fachärzte involviert sind, sei vielversprechend. Dabei müssten Techniken und Schnittstellen geklärt und sowohl ökonomische als auch politische Aspekte in der Ausbildung berücksichtig werden. Dann sei das ein hochattraktives Paket, so einer der Teilnehmer: „Denn dann weiß ich, ich habe eine Anstellung für soundso viele Jahre, kann wissenschaftlich arbeiten, lerne Geräte kennen und wie das System funktioniert“ – wichtige Faktoren in Hinblick auf die Feminisierung der Medizin und die Tatsache, dass viele Mediziner heute nicht mehr in die unternehmerische Selbständigkeit wollen und Wert auf mehr Planungssicherheit legen.
Ziel der Luncheon Roundtable Gespräche ist eine offene Diskussion über völlig neue Formen der Medizin im digitalen Zeitalter. Experten aus verschiedenen Branchen kommen zusammen, um ihre Erfahrungen auszutauschen. Chancen und Risiken von Ansätzen zum Aufbau einer digital vernetzten Medizin werden offen und intensiv diskutiert und persönliche Erfahrungen u.a. über den Umgang mit Widerständen ausgetauscht. Die Erkenntnisse aus den Roundtable Gesprächen werden in regelmäßigen Abständen veröffentlicht und fließen in die weitere Arbeit der Stiftung ein.