Um eine flächendeckende Einführung und damit die Ziele der elektronischen Patientenakte (ePA) zu erreichen, wurde im Koalitionsvertrag der derzeitigen Bundesregierung die Umstellung auf das Opt-out-Verfahren beschlossen, das noch in dieser Legislaturperiode umgesetzt werden soll. Angedacht ist ein mehrstufiges Verfahren: Für alle Versicherten wird automatisch eine ePA angelegt, wenn sie nicht widersprechen. Danach kann sie von Krankenkassen und Ärzten befüllt und in der dritten Stufe auch eingesehen werden. Derzeit ist die Gematik mit der Prüfung der Voraussetzungen beauftragt.
In den Arztpraxen sorgen jedoch technische Probleme, mangelnde Unterstützung bei der Implementation und ein bis dato nicht erkennbarer Nutzen dafür, dass selbst den wenigen Versicherten, die bereits über eine ePA verfügen, nur selten die gewünschten Dokumente darauf eingestellt werden. So fehlt die Unterstützung einer der Berufsgruppen, die für die breite Akzeptanz der ePA in der Bevölkerung wichtig wäre.
Wie kann die praktische Umsetzung gelingen? Darüber diskutierten die Teilnehmer beim Luncheon Roundtable im Januar. Zu den Teilnehmern gehörten:
- Daniel Cardinal, Geschäftsbereichsleiter für Versorgungsinnovationen, TK
- Dr. Stefan Etgeton, Senior Expert Gesundheit, Bertelsmann Stiftung
- Dr. Evelyn Kade-Lamprecht, Geschäftsführerin, hc:spirit
- Dr. Thomas Kriedel, Mitglied des Vorstands, KBV
- Reza Mazhari MPH, Fachreferent E-Health und IT in der Praxis, Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen
- Marcel Weigand, Leiter Kooperationen und digitale Transformation, Unabhängige Patientenberatung Deutschland
- Dr. Helga Willinger, Leiterin der ELGA-Ombudsstelle Wien
sowie von der Stiftung Münch Professor Boris Augurzky, Eugen Münch, Professor Andreas Beivers und Annette Kennel.
Nach wie vor haben weniger als 1% der gesetzlich Versicherten sich für eine ePA registriert. Und diejenigen, die sich durch das mühsame Verfahren zur für die Einrichtung erforderlichen Identifizierung gekämpft haben, bekommen von ihren behandelnden Ärzten nur selten die Dokumente darin eingestellt. Die Umstellung auf das Opt-out Verfahren soll es nun richten. Daten zur tatsächlichen Nutzung (Anzahl der damit arbeitenden Praxen, eingestellte Dokumente etc.) gibt es, anders als für das E-Rezept, im Dashboard der Gematik dazu nicht.
Eine gerade veröffentlichte repräsentative Befragung der Stiftung Münch und der Stiftung Bertelsmann zeigt, dass drei von vier Versicherten die ePA nutzen möchten und die überwiegende Mehrheit sich für ein Opt-out bei der ePA ausspricht. Und sogar unter den Personen, die die ePA nicht nutzen möchten, ist die relative Mehrheit für ein Opt-out-Verfahren. Die Versicherten versprechen sich von der ePA, dass ihr behandelnder Arzt besser informiert ist und damit die Behandlung besser wird. „Die Umfrage zeigt, dass die Bevölkerung schon weiter ist als es sich die Akteure des Gesundheitswesens vorstellen“, resümierte ein Teilnehmer der Runde.
Ein weiteres wichtiges Ergebnis der Befragung: Es wird erwartet, dass die Befüllung der ePA und auch die Informationen dazu vom Arzt in der Praxis übernommen werden. Doch hier gibt es ein weiteres Problem: Die Technik in den Praxen funktioniert oft nicht und durch die geringe Patientenzahl haben die Ärzte keine Routine. Ein Teilnehmer berichtete vom Versuch, Daten einzustellen – dabei sei das Praxisverwaltungssystem (PVS) dreimal abgestürzt. Der Aufwand ist also hoch und sowohl Versicherte als auch Ärzte haben bis dato keinen großen, erkennbaren Nutzen von der ePA. Ärzte bemängeln, dass sich darin nicht durchsuchbare pdf-Dokumente sammeln, so dass es schwer ist, relevante Informationen zu finden. Zudem fehlen bei nicht vollständiger Befüllung wichtige Informationen für die Behandlung. „Wenn ich die ePA nutzen will, muss ich sicher sein, dass wesentliche Daten drin sind. Sonst ist es nur eine Zusatzinformation und ich bin nach wie vor auf andere Wege angewiesen“, betonte ein Teilnehmer der Diskussion.
Mittlerweile verändert sich jedoch die Diskussion um die ePA und das Opt-out-Verfahren. „Wir haben an vielen Stellen Konsens in der Grundeinstellung, nur in Lösungsansätzen nicht“, resümierte ein Teilnehmer der Gesprächsrunde. Diese gelte es nun zu finden. Bisher, so einige Teilnehmer, schieben sich die verschiedenen Akteure gegenseitig den schwarzen Peter zu. Das müsse aufhören und mit konstruktiver Arbeit begonnen werden.
Umstellung auf Opt-out: Meilensteine statt vorgegebenem Startpunkt, funktionierende Technik und Nutzen als Basis für Erfolg
Ein schlichtes Einführen des Opt-out würde nicht zu einem Erfolg der ePA führen, so waren sich die Teilnehmer der Runde einig. „Wenn die ePA, so wie sie jetzt ist, in Opt-out überführt wird, dann haben wir tote Patientenakten, die nicht genutzt werden“, warnte ein Teilnehmer, „wir müssen trotz Opt-out dafür sorgen, dass da Traffic reinkommt“. Mit der Einführung müsse gleichzeitig ein Nutzen entstehen – für Ärzte und für Versicherte. Deshalb sei es wichtig, parallel ein nutzerbasiertes Weiterentwicklungskonzept anzugehen. Dazu gehöre auch eine repräsentative Umfrage unter Ärzten und Patienten, welche Funktionalitäten benötigt und gewünscht werden.
Für die Versicherten könnte man die Hürde, eine Akzeptanz durch Vorteile der ePA zu erreichen, leicht nehmen, zeigten sich einige Teilnehmer der Runde überzeugt. Bereits allein durch das Hinterlegen von Impfpass, Notfallpass und Medikationsplan würden die Versicherten sofort einen Mehrwert sehen. „Diese geringe Erwartung birgt riesige Chancen und Potenziale“, so ein Diskutant. Dies zeige auch die Erfahrung aus der Pandemie-Zeit, in der der überwiegende Teil der Bevölkerung die App zum elektronischen Impfnachweis nutzte – weil sie damit einen Vorteil hatten.
Gezielte Einführung statt festgelegtem Zeitpunkt
Auch einen vorgegebenen Zeitpunkt für die Umstellung auf Opt-out hielten die Teilnehmer der Runde nicht für zielführend. Ein Teilnehmer betonte: „Wir sollten weniger an einem Datum festhalten, sondern Bedingungen definieren, die erfüllt sein müssen, bis ein möglicherweise schrittweiser Rollout beginnt.“ Überzeugt waren die Teilnehmer davon, dass zunächst die Technik funktionieren muss. Und auch eine Mindestanforderung an die zum Start enthaltenen Daten sollte definiert werden, bevor die Umstellung erfolgt. „Wir brauchen ein Set an festgelegten Standarddaten, das automatisch in jeder ePA enthalten sein muss. Dazu könnten die Notfalldaten und der Medikationsplan gehören. Sonst ist es eine Überraschungstüte für den Arzt, wenn er die ePA öffnet“, so ein Diskutant. Wichtig sei, dass manche Daten automatisch und standardmäßig in die Praxisverwaltungssysteme eingeführt werden. „Es darf keine doppelte Dokumentation für Ärzte geben“, betonte er.
Eine schrittweise Einführung hielten ebenfalls viele der Runde für sinnvoll, um den Aufwand in den Praxen zu steuern. „Man könnte überlegen, zunächst die ePA chronisch Erkrankter oder der Teilnehmer an DMP-Programmen zu befüllen und dann den Kreis zu erweitern“, so ein Diskutant.
Doch auch wenn Einigkeit bestand, dass erst Kriterien erfüllt sein müssen, bevor ein Datum für die Umstellung auf Opt-out festgelegt wird – ein Zeitpunkt, zu dem die ePA spätestens eingeführt werden muss, sei unabdingbar. „Sonst wird es nichts“, so ein Teilnehmer.
Hindernisse beseitigen: vereinfachte Identifikation, vereinfachte Nutzung für Ärzte
Einigkeit bestand auch darin, dass das Identifikationsverfahren für die Versicherten vereinfacht werden muss. Derzeit, so monierte ein Teilnehmer, ist aufgrund des Verbots der digitalen Identifikation der Zugang zur ePA ein mehrstündiger analoger Vorgang. Die Vereinfachung des Identitätsmanagements sei Grundlage für die ePA, so die Runde. Dies müsse im Datennutzungsgesetz festgehalten werden, um die Zugangshürden zu reduzieren.
Für die Ärzte muss es möglich werden, die hinterlegten Informationen mit Schlagworten oder Hashtags zu durchsuchen. Außerdem sollte kenntlich sein, wenn nicht alle Daten hinterlegt sind. Für den Mehraufwand, der in den Praxen entsteht, muss eine angemessene Vergütung festgelegt werden. Außerdem sollten die relevanten Informationen automatisch über das PVS in die Akte eingespielt werden können. Dazu gehören zum Beispiel Rönten- und MRT-Bilder und Laborbefunde.
Kommunikation und Aufklärung
Trotz der Zustimmung der Bevölkerung zur Einführung des Opt-out ist die Vorstellung des Nutzens der ePA nur vage. Und auch Ärzte sind nicht ausreichend informiert. Letzteren kommt jedoch eine entscheidende Rolle zu. Sie müssen als Befürworter der ePA gewonnen, also gezielt adressiert werden. Dann erst können sie die Rolle wichtiger Kommunikatoren gegenüber den Versicherten einnehmen.
Mehrere Diskutanten forderten deshalb eine konzertiere Kommunikationskampagne. Diese müsse abgestimmt sein und gleichzeitig von allen Akteuren gestartet werden. Allerdings könne dies erst geschehen, wenn Technik und Prozesse funktionieren. „Die Kommunikation muss der Funktionalität folgen“, unterstrich ein Diskutant.
Blick nach Österreich: Von Erfahrungen profitieren
In Österreich wurde die elektronische Patientenakte, ELGA (elektronische Gesundheitsakte), 2015 eingeführt. Alle Versicherten erhalten sie automatisch, also per Opt-out, und können der Anlage widersprechen. Doch davon machen nur etwa 250.000 Personen Gebrauch, so dass fast die gesamte Bevölkerung von neun Millionen Menschen die ELGA nutzt. Zugang können die Versicherten über eine elektronische Handysignatur einfach erlangen. Menschen, die sich lieber persönlich identifizieren möchten, haben die Möglichkeit, sich an die Ombudsstellen wenden.
Wichtig sei bei der Einführung gewesen, die Akzeptanz der Ärzte zu gewinnen. So hätte es oft Bedenken zur Anwenderfreundlichkeit der ELGA gegeben. Durch gezielte Informationen und Unterstützung – etwa bei der Einrichtung der erforderlichen Software in den Praxen – konnten diese Bedenken ausgeräumt werden. Bei Fragen haben Ärzte zudem die Möglichkeit, sich ebenfalls an die Ombudsstellen zu wenden.