31. Januar 2017
Wie gestaltet sich der Wettbewerb der Krankenkassen? Funktioniert die Aufsicht? Und wird der Durchbruch innovativer Konzepte gefördert oder behindert? Darüber diskutierten die Teilnehmer des ersten Luncheon Roundtable-Gesprächs der Stiftung Münch im Januar.
Zu den Teilnehmern gehörten:
- Antje Domscheit, Referatsleiterin Bundesversicherungsamt
- Anne-Kathrin Klemm, Leiterin Politikabteilung BKK Dachverband
- Dr. Christopher Hermann, Vorstandsvorsitzender AOK Baden-Württemberg
- Jörg Land, Geschäftsführer Sonormed GmbH
- Dr. Dominik Graf von Stillfried, Geschäftsführer Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung Deutschlands
- Prof. Dr. Achim Wambach, Präsident des ZWE und Vorsitzender der Monopolkommission
Von der Stiftung Münch nahmen Stephan Holzinger (Vorstandsvorsitzender), Prof. Dr. Boris Augurzky (Wissenschaftl. Geschäftsführer), Dr. Johannes Gruber (Geschäftsführer, Syndikus) und Annette Kennel (Leiterin Büro München) an der Diskussion teil.
Der Wettbewerb der Kassen
Die freie Wahl der Krankenkasse – möglich wurde sie für die gesetzlich Krankenversicherten in den 1990er Jahren durch das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG). Damit einher ging der Wettbewerb der Kassen untereinander, die seitdem quasi als Unternehmen agieren. Doch sollte dabei nicht nur ein Preiswettbewerb stattfinden, sondern auch ein Qualitätswettbewerb, um darüber langfristig die Wirtschaftlichkeit und Effizienz der Versorgung zu verbessern.
Zu den Möglichkeiten, die den Krankenkassen zur Verfügung stehen, gehören der Wettbewerb bei Beitragssätzen und Service, aber im Grunde auch der Wettbewerb um innovative Versorgungsformen und Zusatzleistungen.[1] Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Möglichkeit, Selektivverträge mit Leistungserbringern abzuschließen. Eine Sonderrolle nehmen die Hausarztverträge ein, die seit 2004 von den Krankenkassen verpflichtend anzubieten sind und bei denen die Vergütung im Rahmen von Selektivverträgen geregelt werden kann.
Regelungen für den Wettbewerb der Krankenkassen: UWG, Morbi-RSA – und das BVA
Der Wettbewerb der Krankenkassen ist streng reguliert. Sie unterliegen nicht nur den Auflagen des Gesetzes für unlauteren Wettbewerb (UWG), sondern sind als Körperschaften öffentlichen Rechts zusätzlich besonderen Bedingungen unterworfen. Damit soll zum einen gewährleistet werden, dass der Wettbewerb ihrem sozialen Auftrag angemessen ist. Zum anderen soll sichergestellt werden, dass die für Werbung aufgewendeten Mittel sparsam und wirtschaftlich eingesetzt werden – schließlich stammen sie aus den Pflicht-Beitragszahlungen der Versicherten und der Arbeitgeber.
Zudem muss verhindert werden, dass die Kassen sich bevorzugt um gutverdienende und gesunde Patienten bemühen und sich so finanzielle Vorteile gegenüber den Wettbewerbern verschaffen, deren Versicherte sich aus kränkeren oder einkommensschwächeren Personen zusammensetzen. Maßnahmen, die der Risikoselektion dienen, sind also unzulässig. Um den Wettbewerb trotz der Ungleichheiten, die sich aus der unterschiedlichen Zusammensetzung der Versicherten ergeben, fair zu gestalten, wurde der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) eingeführt.
Die Rechtsaufsicht liegt beim Bundesversicherungsamt (BVA), das insbesondere die Einhaltung der Wettbewerbsbedingungen und auch die von den Kassen angestrebten Selektivverträge prüft. Zuständig ist das BVA allerdings nur für die „bundesunmittelbaren Kassen“, also solche, deren Zuständigkeitsbereich sich über mehr als drei Bundesländer erstreckt. Die Aufsicht über alle anderen Kassen, also insbesondere die Allgemeinen Ortskrankenkassen, liegt bei der jeweiligen Landesaufsicht.
Funktioniert der Wettbewerb der Krankenkassen?
Dass die Krankenkassen sich als Unternehmen verstehen und auch so agieren, darüber waren sich die Teilnehmer der Diskussion einig. Das ergebe sich schon aus der Tatsache, dass sie insolvenzfähig seien. Sie haben sich von reinen Verwaltungsorganisationen zu Serviceunternehmen gewandelt und stehen in einem klaren Wettbewerb miteinander. Dies zeige sich auch an der Anzahl der existierenden Kassen: seit dem GSG hat sich die Anzahl von über 1.200 auf nur noch über 100 reduziert. Die Beitragsunterschiede liegen nur noch bei etwa 1,5 Prozentpunkten – früher differierten sie um über fünf Prozentpunkte.
Das könne ein Vorteil für die Versicherten sein. Doch kleinere Kassen hätten es schwer, im Wettbewerb zu bestehen. „Es läuft letztlich darauf hinaus, dass wir am Ende noch 50 größere Kassen haben“, prognostizierte ein Teilnehmer. Dabei warnte er: „Größe ist aber nicht automatisch mit höherer Qualität für die Versicherten gleichzusetzen.“ Gerade in Bezug auf Service oder regionale Besonderheiten seien die kleinen Kassen den größeren oft überlegen.
Der Morbi-RSA als Basis für fairen Wettbewerb – sinnvoll oder hinderlich?
Einige Teilnehmer sahen die Einführung des Morbi-RSA kritisch. Denn durch den Morbi-RSA erhielten die Kassen höhere Kosten für die kränkeren Versicherten ausgeglichen – und damit bestehe für einige Krankheiten kein finanzieller Anreiz für die Kassen, in Gesundheitsprävention zu investieren. „Investition in Prävention ist erst mal teuer. Wenn der Patient dann die Kasse wechselt, bleibt sie auf den Investitionen sitzen. Längerfristige Investitionen zahlen sich also nicht aus“, so ein Teilnehmer.
Selektivverträge
Ein wichtiges Element für den Wettbewerb der Kassen war die Einführung der Möglichkeit, Selektivverträge abzuschließen. Nachdem die Zahl der Anträge zunächst gering gewesen sei, habe sie sich inzwischen stabilisiert und liegt bei etwa 1,3 Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben. Die genaue Zahl an Verträgen ist jedoch nicht bekannt – denn die ursprüngliche Anzeigepflicht wurde abgeschafft. Es zeigen sich jedoch starke regionale Unterschiede: während in Ballungsgebieten viele Angebote existieren, gebe es weiße Flecken auf der Landkarte – insbesondere in den neuen Bundesländern finde man oft kaum etwas. Damit bestehe die Gefahr, dass nur ein begrenzter Versichertenkreis Zugang zu innovativen Verträgen mit besonderen Leistungen habe.
Doch ob die Selektivverträge ein sinnvolles Instrument für den Wettbewerb sind, wurde kontrovers diskutiert. „Wir haben hier einen „Nippes-Wettbewerb“ mit Klein-Selektivverträgen“, so ein Teilnehmer. Außerdem gäbe es mehr Potenzial, wenn diese sich nicht auf die ambulante Versorgung fokussierten, sondern auch Krankenhäuser einbezogen würden.
Nicht zuletzt sei es oft schwierig, die Voraussetzungen für Selektivverträge zu erfüllen, sodass sie im vorauseilenden Gehorsam erst gar nicht eingereicht würden. Besonders gäbe es die Befürchtung, sie würden die Wirtschaftlichkeitsprüfung nicht bestehen. Diejenigen Verträge, die eingereicht und vom BVA geprüft würden, würden in der Regel positiv beschieden.
Problematisch sei zudem, dass in einer Welt mit lauter Selektivverträgen die Abläufe in den Praxen stark verkompliziert würde. „Wenn der Patient von der Barmer etwas anderes bekommen muss als der von der AOK, dann ist das für den niedergelassenen Arzt nicht einfach umsetzbar. Je größer die Zahl der verschiedenen kassenspezifischen Angebote, desto umständlicher würde es“.
Kritisch diskutiert wurde auch die generelle Verpflichtung, Hausarztverträge anzubieten. Es könne in einigen Fällen unsinnig sein, wenn das Patientenkollektiv einer Kasse dafür gar nicht gegeben sei.
Funktioniert der Kassenwettbewerb? Und ist er sinnvoll?
Der Wettbewerb der Kassen ist träge, weil die Anreize für die Versorgungsgestaltung zum Teil falsch gesetzt seien. Man sei auf halber Strecke stehen geblieben – denn während die Einnahmeseite geregelt sei, tue sich auf der Versorgungsseite nichts Vernünftiges mehr. Auch die Politik wurde kritisiert: es fehlten klare Bedingungen, stattdessen finde sich ein „Herumgeeiere nach dem Motto: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass.“
Ein zusätzliches Problem ergäbe sich aus der inkonsistenten Aufsicht durch das BVA auf der einen und den Landesregierungen auf der anderen Seite: es gäbe durchaus immer wieder Fälle, in den unterschiedlich interpretiert werde, was vom Gesetz abgedeckt sei und was nicht. Dies schaffe ungleiche Wettbewerbsbedingungen.
Eine Stimme warnte davor, dass der Wettbewerb der Kassen nicht der richtige Weg sei, um die Versorgung zu gestalten, sondern eher ein Risiko, dem man nicht trauen könne. Denn durch die Gestaltung der Selektivverträge könne der Zugang zur Versorgung und letztlich Leistungsgewährung massiv beeinflusst werden. Somit könne die Risikoselektion und nicht stattdessen die Bewertung der Innovation für die medizinische Versorgung gefördert werden. Der Wettbewerb würde vor allem dort geführt, wo man viele Versicherte gewinnen könne. Würden Kassen durch den Wettbewerb gezwungen, bestimmte Regionen aufzugeben, weil sie nicht wirtschaftlich zu versorgen seien, würden sie diese Region verlassen – was ein Nachteil für die dortige Bevölkerung sein kann. Ein anderer Teilnehmer äußerte die Befürchtung, dass der Wettbewerb dazu führe, dass die Nachhaltigkeit der Versorgung außer Acht gerät.
Wie kann der Wettbewerb verbessert werden?
Um die Gesundheitsversorgung weiterzuentwickeln, wurden zwei grundsätzliche Ansätze diskutiert: populationsbezogene regionale Versorgungskonzepte auf der einen und einen konsequenten Wettbewerb auf der Versorgungsebene auf der Kassenebene auf der anderen Seite.
Bei der populationsbezogenen Versorgung ginge die Verantwortung für die gesamte Gesundheitsversorgung einer Region an die Region selbst. Sie bekomme Rahmenvorgaben für die Gesundheitsversorgung, wie und mit wem sie die Ziele jedoch erreiche, sei ihr überlassen. Nur so könnten die tatsächlich vorhandenen und regional sehr unterschiedlichen Bedürfnisse identifiziert und mit allen vor Ort agierenden Kassen und Leistungserbringern durch regionalspezifische Angebote befriedigt werden. „Von zum Beispiel einer verbesserten Notfallversorgung können ja nicht nur die Versicherten einer Kasse profitieren, die einen hochwertigen Notfallversorgungsvertrag mit Leistungserbringern einer Region geschlossen hat, das betrifft ja automatisch alle“. Schließlich gehe es nicht um die Kassen, sondern darum, was die Region in der Versorgung benötige. So könne ein indirekter Wettbewerb um die beste Regionalversorgung entstehen. Der erforderliche Druck von außen könne über bedingungslose Transparenz erreicht werden. Dazu sei ein populationsbezogenes Public Reporting nötig, das einen Vergleich der Regionen untereinander erlaubt. Kritikpunkt aber: ist die Versorgung einer Kasse nicht gut, könne man als Patient die Versicherung wechseln. Ist dagegen die Versorgung in einer Region nicht gut, ist das „Abstimmen mit den Füßen“ nur schwer möglich.
Deshalb wurde alternativ diskutiert, dass besser die Krankenkassen die Gesamtverantwortung für die Versorgung ihrer Versicherten erhalten sollten. Sie würden dann das Angebot erarbeiten. Die Versicherten könnten die Kasse wechseln, wenn sie nicht zufrieden seien. „Der Kollektivvertrag müsse weg und der Sicherstellungsauftrag den Kassen übertragen werden“, so ein Teilnehmer. Damit würden automatisch die Anreize so gesetzt, dass sie funktionierten. Dem hielten jedoch andere Diskutanten entgegen, dass Versorgungsmodelle nicht für alle Regionen passgenau erarbeitet werden können.
Innovationen ins System: hilft oder bremst der Wettbewerb?
Innovationen können über kassenspezifische Selektivverträge Eingang ins System finden. Einige junge Unternehmen wählen diesen Weg auch bewusst – und nutzen so den Kassenwettbewerb, um sich Zugang zum Markt zu verschaffen. Doch dieser Weg hat auch Nachteile. Denn oft zeigt sich der Nutzen der Innovation erst, wenn eine kritische Größe an Versicherten erreicht werden kann – und diese erreiche man bei einem Vertrag mit einer einzelnen Kasse meist nicht. Dies gelte insbesondere bei der Einführung von Produkten und Lösungen aus der IT. „Da müssen sie erst einmal viel Geld investieren, und es rechnet sich erst ab einer hohen Skalierung.“
Doch erlebe man mittlerweile, dass auch Kassen mit einem großen Marktanteil versuchten, Innovationen für einen Teilbereich der Versicherten anzubieten. Allerdings: „Kein Arzt installiert eine Software nur für einen Teil seiner Patienten. Es ist für ihn nur lohnend, wenn er das dann auch bei allen Patienten anwenden kann.“ Deshalb wäre es sinnvoller, Software für Allgemein- und Selektivverträge zu entwickeln.
Insgesamt sei es aber durch die Zersplitterung und durch den Anspruch der Kassen, Selektivverträge exklusiv anzubieten, schwierig für junge Unternehmen, Innovationen flächendeckend zu etablieren. „Wenn ich vorher gewusst hätte, wie schwierig das ist, hätte ich mich das vielleicht gar nicht getraut“, so ein Teilnehmer.
[1] Gemeinsame Wettbewerbsgrundsätze der Aufsichtsbehörden der gesetzlichen Krankenversicherung vom 19. März 1998, geändert am 9. November 2006, in der Fassung vom 11. November 2015 (Wettbewerbsgrundsätze 2016).