09. Oktober 2015
Das Taxi bestellen wir inzwischen per App, unsere Fotos speichern wir längst digital und geben die Alben per Mausklick Familie und Freunden frei – die Digitalisierung ist mitten in unserem Alltag angekommen. Für den medizinischen Bereich scheint dies jedoch nicht zu gelten. Die Patientenakten in den Praxen bestehen oftmals aus losen Blättern und handschriftlichen Vermerken, beim Arztbesuch wird jedes mal die Krankengeschichte abgefragt und danach ein Papier-Rezept mitgenommen. An innovativen und kreativen Ideen, wie durch digitale Angebote Behandlungen verbessert und Abläufe im Sinne der Patienten effektiver werden können, mangelt es nicht. Doch hat es bisher kaum eine Idee geschafft, sich langfristig, flächendeckend und profitabel in Deutschland zu etablieren – und selbst die staatlich verordnete elektronische Gesundheitskarte ist zu einer Lachnummer verkommen.
Woran liegt es, dass die vorhandenen Geschäftsideen der heutigen Gründergeneration im Gesundheitsweisen nicht umgesetzt werden können? Wieso sind uns andere Länder voraus – angefangen von unseren Nachbarn in der Schweiz bis hin zu den USA? Darüber diskutierten die Teilnehmer des sechsten Luncheon Roundtable der Stiftung Münch.
An der Diskussion teilgenommen haben:
- Simon Bolz, Gründer und CEO „KLARA“
- Dr. Johannes Bittner, Gründer und Geschäftsführer „Was hab ich?“
- Sebastian Gaede, Gründer und Geschäftsführer „Smartpatient“
- Dr. Johannes Gruber, Seufert Rechtsanwälte
- Elizabeth Harrison, Beraterin für Start-up-Unternehmen
- Dr. Klaus Stöckemann, Geschäftsführer Peppermint Venture Partners
Sowie von der Stiftung Münch:
- Stephan Holzinger, Vorstandsvorsitzender
- Dr. Boris Augurzky, wiss. Geschäftsführer
- Annette Kennel, Referentin Öffentlichkeitsarbeit
Was sind die größten Hürden?
Sehr gute Ideen, sehr gute Modelle, die für alle Seiten ein Gewinn wären. Patienten könnten ihre Behandlung verbessern, Ärzte ihre Abläufe straffen und Kassen Geld einsparen. Doch die Realität ist ernüchternd. „Wenn überhaupt, dann kann man in Deutschland nur B2B-Modelle umsetzen. B2C ist nicht möglich.“ So lautet das Fazit, dem die Teilnehmer ausnahmslos zustimmten. Der Grund dafür liege in der in Deutschland vorherrschenden Vollversorgungsmentalität. „Die Menschen sind gewöhnt, dass alle Leistungen im Gesundheitsbereich bezahlt werden. Also sind sie nicht bereit, für solche Apps und andere Angebote Geld auszugeben.“ Dazu kommen oft Zweifel, ob Qualität auch gewährleistet ist. Ein Teilnehmer zeigt sich überzeugt, dass die Einführung elektronischer Rezepte den Markt verändern würde: „Wenn Sie mit einem Arzt elektronisch kommunizieren und danach die Praxis aufsuchen müssen, um ein Rezept zu holen, ist der Nutzen nicht gegeben.“
Problem: Fragmentierung des Kassensystems
Wenn die App nun die Gesundheit fördert, wäre es ein naheliegender Gedanke, dass die Kosten von der Krankenkasse getragen werden. Vereinzelt gibt es das, so wie gerade die TK die Nutzung der Therapie-App „Tinnitracks“ übernommen hat. Doch hier liegt ein weiteres, entscheidendes Problem, warum es viele Start-ups in Deutschland nicht schaffen: Die Fragmentierung des Kassensystems. „Wir verhandeln mit einer Kasse, weisen den Erfolg nach. Damit hätten Sie eigentlich alles. Aber bei der nächsten Kasse geht es wieder von vorne los. Es sei dort eine andere Klientel etc. – das ist wieder ein Zeitfresser, den man oft kaum finanziert bekommt.“ Wenn der Erfolg einer Therapie mit einer Kasse nachgewiesen wurde, müsse das auch für die anderen gelten – dies fordern die Teilnehmer. Und auch die Daten, die für die wissenschaftliche Evaluation erforderlich sind, sollten nicht blockiert, sondern freigegeben werden.
Zudem sehen es viele der Teilnehmer kritisch, dass die Krankenkassen am bürokratischen Tropf des Bundesversicherungsamts hängen. „Das ist ein großes Problem bei der Einführung innovativer Produkte.“
Einmaliger Nachweis der Funktionalität muss allgemein gelten
Ein weiteres Problem: die starke Regulierung, die in Deutschland existiert. Der Nutzen muss in vielen Etappen nachgewiesen werden. „Wenn Sie gerade durch einen brennenden Reifen gesprungen sind, dann wird Ihnen der nächste vorgehalten“, so fasst es ein Teilnehmer zusammen. Dadurch verstreicht ebenfalls viel Zeit – und diese lange Zeit zu finanzieren, ist eines der großen Probleme. Zudem ist es oft schwer, auf ausreichend große Mengen an Patientendaten zuzugreifen, um den Nachweis wissenschaftlich zu evaluieren. Auch hier würden es die Teilnehmer begrüßen, wenn ihre sinnvolle Nutzung vereinfacht würde. Denn die Daten sind vorhanden, können aber nicht zur Auswertung freigegeben werden. „In anderen Ländern funktioniert das. Und wir würden schneller sehen, ob ein Produkt gut funktioniert – oder eben nicht.“
Auch der Nachweis, dass eine App gut funktioniert, führt nicht unbedingt zum Erfolg. Einige Start-ups konnten den wissenschaftlichen Beleg erbringen, dass durch ihre Apps die Diagnostik verschiedener Erkrankungen deutlich gesteigert werden konnte und zum Teil sogar besser war, als wenn sie von einem Arzt persönlich durchgeführt wurde. Diese Apps scheitern bis dato am vehementen Widerstand der Standesvertretungen der Ärzteschaft – und dem Fernbehandlungsverbot. Doch letzteres wird fallen, zeigen sich die Diskussionsteilnehmer überzeugt. Kritisch ist auch zu sehen, dass trotz der erheblichen Vorteile, wie sie sich etwa durch telemedizinische Konsultation ergeben, der Großteil der niedergelassenen Ärzteschaft nach wie vor nicht aufgeschlossen ist für deren Nutzung.
So zeigt eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung, dass knapp zwei Drittel der Ärzte Videokonferenzen ablehnen – mit dem Hauptargument, dass dies nicht ihrer Vorstellung von Arzt-Patienten-Beziehung entspreche. Ob es dem Wunsch der Patienten entspräche, die sich zwischenzeitlich via App auch mit ihrem Bankberater visuell austauschen können, scheint dabei nicht zu zählen.*
Änderungen des Innovationsfonds erforderlich
Werden Start-ups vom Innovationsfonds profitieren? Nein, wenn nichts geändert wird, so die Teilnehmer. Nachbesserungen seinen dringend erforderlich. Sonst würde das Geld in wenige große Projekte fließen, die von bereits bekannten Anbietern durchgeführt werden – weil nur so Risiko und Arbeitsaufwand überschaubar seien. Kleine und innovative Start-ups hätten keine Chance. „Herr Hecken muss ausdrücklich die Erlaubnis haben, ein Teil der Mittel des Fonds auch „verbraten“ zu dürfen“, so fordert es ein Teilnehmer. Und auf keinen Fall dürfe der Gemeinsame Bundesausschuss für die Verteilung der Mittel zuständig sein. Zudem sollte auch jede Krankenkasse in Abhängigkeit ihres Beitragsaufkommens einen Risikokapitaltopf unabhängig vom BVA haben.
Sind die USA immer die bessere Alternative?
Viele Unternehmen wählen nach wie vor den Weg in die USA, weil sie dort ihre Geschäftsidee rascher umsetzen können. Dass die Rahmenbedingungen dort einfacher sind, kann zum einen daran liegen, dass die Freude an Innovation und die Affinität zur Technik dort generell größer ist, während in Deutschland das Streben nach Perfektion vorherrscht. Start-ups können im amerikanischen Umfeld besser agieren. Denn gerade bei der Entwicklung von Geschäftsmodellen ist es in der Anfangsphase entscheidend, flexibel und schnell reagieren und ihr Modell anpassen zu können, um erfolgreich zu sein. Zudem sind die Bürger in den USA gewöhnt, für ihre Gesundheitskosten auch selbst aufzukommen.
Im Schnitt zahle jeder Bürger 20 bis 70 Euro pro Arztkonsultation. Das macht es für junge Start-ups leichter, gerade auch B2C-Modelle in den Markt zu bekommen. „Die Lösung kann aber nicht sein, dass alle in die USA gehen. Wenn man hier jedoch nicht weiterkommt, wird man diesen Weg weiter einschlagen.“
*Ärzte im Zukunftsmarkt Gesundheit 2015: Die eHealth-Studie; Die Digitalisierung der ambulanten Medizin. Eine deutschlandweite Befragung niedergelassener Ärztinnen und Ärzte. Eine Studie der Stiftung Gesundheit, durchgeführt von der GGMA Gesellschaft für Gesundheitsmarktanalyse mbH https://www.stiftung-gesundheit.de/pdf/studien/Aerzte_im_Zukunftsmarkt_Gesundheit-2015_eHealth-Studie.pdf
Ziel der Luncheon Roundtable Gespräche ist eine offene Diskussion über völlig neue Formen der Medizin im digitalen Zeitalter. Experten aus verschiedenen Branchen kommen zusammen, um ihre Erfahrungen auszutauschen. Chancen und Risiken von Ansätzen zum Aufbau einer digital vernetzten Medizin werden offen und intensiv diskutiert und persönliche Erfahrungen u.a. über den Umgang mit Widerständen ausgetauscht. Die Erkenntnisse aus den Roundtable Gesprächen werden in regelmäßigen Abständen veröffentlicht und fließen in die weitere Arbeit der Stiftung ein.