Die Gesundheitssysteme vieler Länder wurden durch die SARS-CoV-2-Pandemie an ihre Grenzen gebracht. Erfreulicherweise ist es in Deutschland bislang gelungen, diese Grenzen nicht „austesten“ zu müssen. Das zu Beginn ausgerufene Ziel „flatten the curve“ wurde erreicht und die Mortalität ist im Vergleich zu anderen Ländern geringer.
Die Pandemie ist aber längst noch nicht überstanden. Weder gibt es ein wirksames Medikament noch eine Impfung gegen das Virus. Für eine abschließende Analyse ist es deshalb zu früh. Doch aus den Erfahrungen der ersten Monate kann bereits ein Zwischenfazit gezogen werden: Welche Effekte sind aufgetreten? Welche Maßnahmen haben zum Erfolg beigetragen? Wo liegen die Probleme? Welche Lehren können für die Zukunft gezogen werden, damit das Gesundheitssystem sowohl in normalen Zeiten gut funktioniert als auch gleichzeitig auf weitere Pandemien vorbereitet ist? Darüber diskutierten die Teilnehmer des Lunchen Roundtables der Stiftung Münch, der online durchgeführt wurde.
Zu den Teilnehmern gehörten:
- Prof. Reinhard Busse Technische Universität Berlin, Fachgebiet Management im Gesundheitswesen
- Dr. Gerald Gaß, Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft
- Prof. Martina Hasseler, Prodekanin der Fakultät Gesundheitswesen an der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften
- Prof. Martin Hirsch, Inhaber des Lehrstuhls Künstliche Intelligenz in der Medizin an der Philipps-Universität Marburg
- Franz Knieps, Vorstand des BKK-Dachverbandes
- Dr. Thomas Menzel, Vorstand Krankenversorgung am Klinikum Fulda
- Prof. Armin Nassehi, Inhaber des Lehrstuhls Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München
- Barbara Steffens, Leiterin der Landesvertretung TK Nordrhein-Westfalen
- Moderation: Prof. Andreas Beivers, Studiendekan an der Hochschule Fresenius
sowie von der Stiftung Münch Professor Boris Augurzky (Vorstandsvorsitzender), Eugen Münch (stv. Vorstandsvorsitzender), Dr. Johannes Gruber (Geschäftsführer) und Annette Kennel (Operative Geschäftsführerin).
Welche Effekte sind durch die Krise entstanden?
Weniger Patienten in Wartezimmern und Notaufnahmen – Chance für Patientensteuerung?
„Überall sieht man Effekte, mit denen man vorher nicht gerechnet hat“, resümierte ein Diskussionsteilnehmer, „Wer hätte gedacht, dass durch ein Virus der Verkehr zum Erliegen und die CO2-Emissionen verringert werden?“ So auch im Gesundheitssystem. Die Notaufnahmen verzeichneten einen Rückgang der Patienten um 40 Prozent, im ambulanten Bereich fanden sich vor allem im fachärztlichen Bereich sogar bis zu 50 Prozent weniger Patienten in den Wartezimmern ein als vor der Pandemie.
Die Gründe sind vielfältig und noch schwer zu bewerten, betonten einige Teilnehmer der Diskussion. Ein Grund sei sicher, dass die Menschen sich fragen, ob es Sinn macht, dieses Versorgungsangebot jetzt bei erhöhter Infektionsgefahr wahrzunehmen. So würden zum Beispiel einige der Patienten, die nicht in den Notfallambulanzen erschienen, dort auch normalerweise schlicht nicht hingehören, und Patienten, die sonst ihren Hausarzt aufsuchen würden, für ihre Genesung keinen Arzt benötigen. Doch bei einem Teil handelt es sich bestimmt auch um unterbliebene, medizinisch notwendige Leistungen, die nun zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden müssen – möglicherweise auch mit einer durch die Verzögerung entstandenen Verschlimmerung.
Erstaunlich ist jedoch, dass auch die Diagnosen Herzinfarkt und Schlaganfall massiv zurückgegangen sind. Ein Teilnehmer berichtete von einem Rückgang der Diagnose Herzinfarkt um 50 Prozent. „Bisher sind wir davon ausgegangen, dass hier keine „falschen“ Diagnosen gestellt werden, die durch Anreizsysteme getriggert werden, sondern die Versorgungs- und Morbiditätsrealität darstellen“, unterstrich ein Teilnehmer. Die Gründe müsse man ausführlich evaluieren, wenn die Pandemie überstanden sei. So würden zum Beispiel neuerdings auch Kardiologen Hausbesuche machen, weil die Praxen leer sind. Und um zu prüfen, ob auch tatsächlich mehr Menschen an diesen Erkrankungen gestorben sind, müssen die Übersterblichkeitsdaten ausgewertet werden.
Ein Teilnehmer zeigte sich überzeugt, dass der Rückgang der Patientenzahlen in allen Sektoren ein Indikator für Überversorgung sei – und die ist nicht nur teuer, sondern ein Qualitätsproblem, betonte er und führte aus, dass Deutschland im internationalen Vergleich bisher 50 Prozent zu viele Patienten im stationären Bereich hätte. „Wenn das genau diejenigen sind, die jetzt wegbleiben, ist es gut und wir müssen das beibehalten.“
Die Teilnehmer des Gesprächs waren sich einig, dass dies eine wichtige Frage für die Zukunft ist: „Wie können wir dafür sorgen, dass Patienten an der für sie adäquaten Stelle versorgt werden und das freie Durchlaufen durch das System künftig so nicht mehr funktioniert – insbesondere der Eintritt an besonders hochwertigen und teuren Stellen wie den Notfallambulanzen der Universitätskliniken?“, formulierte es ein Teilnehmer der Runde. Dass eine gezielte Steuerung wichtig ist, zeigt nach Ansicht eines Teilnehmers auch, dass 20 Prozent der beatmeten COVID 19-Patienten verlegt werden mussten, weil sie initial in einem falschen Krankenhaus behandelt wurden. „Das ist eigentlich ein Skandal“, meinte er.
Alle sahen hier eine große Chance, die durch die Krise entsteht: Sie hätte dazu beigetragen, dass Patientensteuerung Akzeptanz erfahren würde. Eine effektive Patientensteuerung sollte nach der Krise angegangen und etabliert werden, denn sie würde dazu führen, dass die Qualität und die Effizienz verbessert werden können. Allerdings seien klare Ansagen seitens der Politik nötig, was geht und was nicht. Ein Teilnehmer der Runde wies außerdem darauf hin, dass bisher die Steuerung stets von der medizinischen Diagnose und der Berufsgruppe der Ärzte ausgehe. Für Lösungsansätze müssten auch interdisziplinäre Konzepte vor allem im niedergelassenen Bereich mitgedacht werden.
Digitale Angebote erfahren höhere Akzeptanz
Doch wie bringt man die Menschen eigentlich dazu, dass sie auf etwas verzichten, auf das sie verzichten könnten, bei dem sie dies aber selbst nicht einschätzen können? Und wie bekommt man Menschen dazu, ihr Verhalten zu ändern? Denn, wie es ein Teilnehmer formulierte: „Selbst, wenn ich etwas einsehe, heißt es ja nicht, dass ich mein Verhalten ändere.“ Gerade auch im Gesundheitssystem gelte bei vielen der Grundsatz „viele und teure Leistungen sind auch besonders gut.“
Hier könnte ein weiterer Effekt der Corona-Pandemie greifen: die erhöhte Akzeptanz und Nutzung digitaler Angebote, unter anderem von Apps. „Die Menschen, die in die Notaufnahme gehen, sind ja vorher zu Hause und fragen sich, ob sie da wirklich hingehen sollen“, so ein Diskutant. Durch seriöse digitale Tools können sie in ihrer Entscheidung unterstützt werden. Diese müssten nicht nur die angezeigte Versorgungsstufe vorschlagen, sondern auch die regionalen Gegebenheiten berücksichtigen und den Patienten damit ermöglichen, gezielt in die passende Versorgungseinheit zu gehen. Zudem kann die Stärkung der Patientensouveränität ebenfalls zu einer gezielten Steuerung durchs System beitragen, zeigten sich einige Diskutanten überzeugt. Aber auch bei den Leistungserbringern ist die Nutzung digitaler Angebote, wie zum Beispiel Telemedizin, stark gestiegen – ebenfalls ein Aspekt, der nach der Krise beibehalten werden sollte.
Sektorenübergreifende Konzeption, Flexibilität und ausgelagerte Testzentren als Erfolgsfaktoren
Als positiv für die Bewältigung der Krise werteten die Teilnehmer der Diskussion, dass die Versorgungskonzepte sektorenübergreifend angegangen wurden und die Kommunikation zwischen den verschiedenen Akteuren gut funktioniert habe. „Keiner kann die Krise allein bewältigen, es ist Vertrauen nötig, und das haben alle bewiesen“, betonte ein Teilnehmer. Das gegenseitige Vertrauen würde auch dazu führen, dass Komplexität reduziert worden sei, betonte ein Teilnehmer und zog als Beispiel die geringeren Prüfquoten im stationären Sektor heran.
Auch die dezentralen Entscheidungsstrukturen haben sich bewährt und sollten beibehalten werden. Positiv wurde auch die Möglichkeit, flexibel reagieren zu können, gesehen. Die kurzfristige Abschaffung der Pflegepersonaluntergrenzen in den Kliniken wurde hingegen unterschiedlich bewertet: während einige Teilnehmer sie als erfolgreiche Maßnahme werteten, sahen andere hier Probleme: „Die Pflegepersonaluntergrenzen abzuschaffen, wenn es eng wird, ist ein Fehlschluss“, meinte ein Teilnehmer, „da sind wir bei Kapazitätsproblemen.“ Er vertrat die Auffassung, dass die pflegerische Versorgung im Krankenhaus nur aufrechterhalten werden konnte, weil viele Patienten den Kliniken fernblieben.
Als besonders erfolgreich werteten die Teilnehmer den Ansatz, Testungen weitgehend aus den Kliniken und auch möglichst aus Arztpraxen fernzuhalten und in eigenen Testzentren durchzuführen. In Frankreich seien 70 Prozent der Patienten in Krankenhäusern behandelt worden, weil fast nur dort Tests durchgeführt wurden (etwa 80 Prozent der Tests fanden im Krankenhaus statt). War ein Test positiv, wurden die Patienten in der Regel in der Klinik behalten. In Deutschland dagegen wurde infolge der externen Testzentren nur jeder fünfte Patient im Krankenhaus behandelt werden. Das habe die befürchtete Überlastung gemildert und dazu beigetragen, dass die Pflegefachpersonen nicht über die Maßen beansprucht werden mussten.
In Deutschland seien bis heute 35.000 Covid19-Patienten stationär behandelt worden bei einer Verweildauer von durchschnittlich zehn Tagen. „Im Schnitt war damit ein Prozent aller Betten belegt mit einem Maximum von zwei Prozent Anfang April“, fasste ein Diskutant zusammen. Für ihn sei das ein Signal, dass die Bedeutung der Bettenanzahl in der öffentlichen Wahrnehmung überhöht sei und forderte: „Deutlich weniger Betten und dafür gutes Pflegefachpersonal ist besser. Diese Diskussion müssen wir jetzt führen!“.
Schwachstellen: Personalentwicklung und Digitalisierung
In der Krise kommen auch Schwachstellen ans Licht, die zwar bekannt waren, nun aber mit ihrer ganzen Tragweite sichtbar wurden. An erster Stelle nannten die Teilnehmer die mangelnde Digitalisierung, ganz besonders im öffentlichen Gesundheitsdienst: „Wenn irgendwo technologische Probleme sichtbar wurden, dann hier“, so ein Teilnehmer. „Eigentlich haben wir in Deutschland mit den Gesundheitsämtern etwas, das es in vielen anderen Ländern gar nicht gibt. Sie sind eine Stärke und gute Struktur. Aber es wäre besser gewesen, sie hätten auch Computer gehabt und Emails versenden können“, bemerkte ein weiterer Teilnehmer. Ein anderer betonte, dass es nicht angehen könne, dass der öffentliche Gesundheitsdienst gezwungen sei, die Covid19-Fälle per Fax an das RKI zu schicken. Hier müsse dringend investiert werden, um künftig besser gewappnet zu sein und schneller reagieren zu können.
Ein weiteres Problem, das lang bekannt und nun wieder spürbar wurde: der Mangel an Pflegefachpersonen. Ein Teilnehmer merkte an: „Wir haben bei der Personalentwicklung bisher immer nur auf Ärzte und Arztzahlen geschaut, in den anderen Bereichen wurde rationalisiert. Wir müssen stattdessen in multiprofessionelle Teams investieren, und zwar vor allem in der Grundversorgung, aber auch bei der Maximalversorgung, wo sich die Prozesse verändern.“
Ein weiterer Kritikpunkt: unklare Verantwortlichkeiten. „Wo war am Anfang der Sicherstellungsauftrag für die ambulante Versorgung? Wo war die Verantwortung für die Koordination? Wäre das klarer gewesen, hätten wir Anfangsschwierigkeiten vermeiden und noch besser durch die Krise kommen können“, betonte ein Diskussionsteilnehmer. Hier bestehe für künftige Krisen Klärungsbedarf.
Nach der Krise ist vor der Krise: ein resilientes Gesundheitssystem schaffen
Ein gutes Gesundheitssystem muss beides können: in Normalzeiten hohe Qualität ohne Verschwendung bieten und gleichzeitig in Krisensituationen gut funktionieren. Viele der drängendsten Fragen vor der Corona-Pandemie bestehen deshalb auch danach unverändert weiter: „Es gibt gar keinen Anlass, von den Zielen Qualität, Kosten und Effizienz abzuweichen“, betonte ein Diskutant. Durch die Krise werde die Effizienz sogar stärker an Bedeutung gewinnen, denn sie verschärft die demografisch bedingt ohnehin größer werdende Lücke an personellen und finanziellen Ressourcen.
Man könne ein System niemals auf alle Eventualitäten vorbereiten. „Aber wir sollten so planen, dass wir nie wieder kurzfristig Beatmungsgeräte anschaffen müssen oder mit Pflegefachkräften so sehr ins Defizit kommen“, unterstrich ein Teilnehmer. Entscheidend sei Digitalisierung, sektorenübergreifende Versorgung, effektive Patientensteuerung und eine Stärkung der Patientensouveränität, um sie in der Wahl der angemessenen Versorgung zu unterstützen.
„Ein System ist dann resilient, wenn es in der Lage ist, an den Schnittstellen der unterschiedlichen Akteure etwas anständiges hinzukriegen“, erläuterte ein Teilnehmer. Er appellierte, bei Fragen der Ausbildung, der Allokation, der Finanzierung und bei Entscheidungen stets alle Akteure einzubeziehen, dies sei entscheidend. Er unterstrich: „Es geht nicht darum, wer systemrelevant ist und wer nicht. In einem System sind alle systemrelevant, sonst würde es nicht funktionieren. Entscheidend sind die Schnittstellen.“
Über die Folgen der Corona-Krise für das Gesundheitssystem hat Martin U. Müller mit Professor Boris Augurzky gesprochen.
Das Gespräch können Sie hier anhören:
Podcast: Play in new window | Download