21. April 2015
„Was will der Patient?“ war die Frage, über die beim vierten Luncheon Roundtable der Stiftung Münch diskutiert wurde. Denn obwohl Ärzte, Kassen und Politiker einhellig beteuern, stets das Wohl des Patienten in den Mittelpunkt zu stellen, werden deren Interessen oft nicht berücksichtigt. Vielmehr stehen eigene Interessen der verschiedenen Akteure im Vordergrund.
An der Diskussion nahmen teil:
- Prof. Dr. Gerhard Englert, Patientenbeirat der Deutschen Krebshilfe und Selbsthilfevertreter Deutsche ILCO
- Reinhard Kirchner, Mitglied des Vorstands, Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe
- Dr. Andreas Köhler, Ehemaliger Vorstandsvorsitzender Kassenärztliche Bundesvereinigung
- Dr. Sebastian Schmidt-Kaehler, Organisations- und Unternehmensberatung für Patientenkommunikation; zuvor Geschäftsführer Unabhängige Patientenberatung Deutschland
- Roland Sing, Ehem. Vorstandsvorsitzender AOK Baden-Württemberg, Präsidiumspräsident VdK Sozialverband
- Kai Vogel, Leiter Team Gesundheit und Pflege, Verbraucherzentrale Bund
- Stephan Holzinger, Vorstandsvorsitzender
- Eugen Münch, stellvertretender Vorstandsvorsitzender
- Dr. Boris Augurzky, Geschäftsführer der Stiftung Münch
- Annette Kennel, Referentin Öffentlichkeitsarbeit
Patienten wünschen sektorenübergreifende Versorgung
„Dem Patienten ist es egal, wer zuständig ist. Er will gut versorgt werden“, so ein Teilnehmer über die Wünsche der Patienten. Ob stationäre oder ambulante Versorgung oder die weitere Behandlung nach einem Klinikaufenthalt – das alles müsste aus einer Hand kommen, ein medizinisch-rehabilitatives, ganzheitliches System, das alle Bereich abdeckt. „Zuständigkeiten und Kompetenzen dürfen sich dabei nicht abgrenzen, sondern müssen zusammenwirken“, so ein weiterer Teilnehmer. Wichtig sei es, integriert zu denken und auch die Bereiche Hospiz und Palliativmedizin einzubeziehen. Und auch psychosoziale Versorgung sollte Teil des Angebotes sein.
Balance zwischen Beratungs- und Lotsenfunktion im Krankheitsfall
Es sei wichtig, dass die Patienten den Zugang zu allen Leistungen haben. Doch sollten die Patienten dort behandelt werden, wo die Behandlungskompetenz auch ihrem Krankheitsbild entspricht, sie also die erforderliche Qualität vorfinden. „Geschieht dies nicht, entstehen – neben der medizinisch und ökonomischen Ineffektivität – auch Gefahren für den Patienten“, warnte Eugen Münch. Denn wenn etwa ein final erkrankter Patient auf die Intensivstation eines Maximalversorgers verlegt wird, wird er dort am Leben erhalten – weil diese Station darauf spezialisiert ist. Besser könnte für diesen Patienten die Unterbringung in einer kleineren Klinik sein, die auf diese Patienten spezialisiert ist und unter pflegerischer Leitung stehen könnte.
Um zu beurteilen, wo die passende und qualitativ beste Option angeboten wird, ist einerseits der mündige Patient gefragt. Andererseits ist gerade in der Ausnahmesituation einer schweren Erkrankung oft Beratung gefragt. „Wir haben Patienten, die selbst Ärzte sind, und die im Krankheitsfall schlicht mit der Entscheidungsfindung überfordert sind“, so ein Teilnehmer. Es sei wünschenswert, ein Gleichgewicht zwischen Beratung einerseits und Lotsenfunktion andererseits zu finden. Entscheidend sei nach Meinung der Mehrheit der Gesprächsteilnehmer ein exzellentes Case-Management, das aber aus einer Hand kommen muss und nicht nach Disziplinen getrennt sein darf.
Unnötige Doppeluntersuchungen, Fehldiagnosen, Wechselwirkungen zwischen Medikamenten, die von verschiedenen Ärzten unwissentlich verschrieben wurden: Die überwiegende Mehrheit der Diskussionsteilnehmer war sich einig, dass durch eine digitale Erfassung und Speicherung der Daten des Patienten in einer elektronischen Patientenakte (ePa) die Behandlungsqualität deutlich erhöht werden könnte. Einige Beispiel wurden genannt: Der Fall einer Patientin, die innerhalb eines Jahres bei 46 verschiedenen Ärzten war. Sie bekam 32 verschiedene Medikamente verschrieben, die sie auch einnahm. Hätten die Ärzte über eine elektronische Akte über die vorangegangenen Arztbesuche und Medikation erfahren, hätten sie zielgerichtet reagieren können.
Auch Fehldiagnosen könnten besser vermieden werden: so wurde ein Patient mit der Diagnose eines Lungenkarzinom in einer anderen Klinik zwei Wochen mit dem Verdacht auf Lungenrundherd behandelt – den Verdachtsbefund kannten die Ärzte dort nicht, weil der Arztbrief nicht mitgegeben wurde. Ein Teilnehmer unterstrich: „Die ePa ist zwingend erforderlich, um so etwas zu vermeiden!“.
Woran scheitert die Einführung einer solchen Akte? Eine ePA würde – neben den Vorteilen in der Patientenversorgung – auch Fehler erkennbar und transparent machen. Wo wurde etwas versäumt? Wo war der Patient an der für ihn falschen Stelle? – Diese Auswertung würde den Patienten ebenfalls zu Gute kommen. Doch die Aufdeckung von Fehlern könne Ängste verursachen – und deshalb auf Gegenwind stoßen, vermuteten einige Gesprächsteilnehmer.
Ein weiteres großes Hemmnis ist der Datenschutz. Doch wie stellt sich dies aus Sicht der Patienten dar? Selbstverständlich gib es ein berechtigtes und schützenswertes Recht auf den Schutz der Daten. Doch Beschwerden, die bei verschiedenen Patientenorganisationen eingehen, drehen sich so gut wie nie um das Thema Datenschutz. Dagegen gibt es häufig Beschwerden, dass den Patienten der Einblick in ihre Krankenakte verwehrt wird. Die Forderung der Stiftung Münch – neben der Einführung einer ePA auch jedem Patienten den Zugriff zu seinen eigenen Daten zu ermöglichen – wäre also in ihrem Interesse.
Ein wichtiger Aspekt wurde von einem der Gesprächsteilnehmer genannt: Die Konkurrenten sind heute nicht mehr die anderen Klinikketten, sondern ganz andere globale Konzerne. Google und Apple sind bereits dabei, Daten zu sammeln und zu analysieren und drängen in den Gesundheitssektor. „Mir wäre es viel wohler, wenn die Daten nicht von einem global agierenden Unternehmen genutzt würden, der eine ganz andere Ausrichtung hat, sondern von einem Gesundheitsversorger.“
Was müsste geändert werden, damit der Patient tatsächlich in den Mittelpunkt gerückt wird? „Eigentlich ist der Gesetzgeber gar nicht nötig. Es wäre heute schon möglich, wird nur nicht gemacht. Wir sollten die Defizite nennen und sie positiv in Forderungen umformulieren.“
Ziel der Luncheon Roundtable Gespräche ist eine offene Diskussion über völlig neue Formen der Medizin im digitalen Zeitalter. Experten aus verschiedenen Branchen kommen zusammen, um ihre Erfahrungen auszutauschen. Chancen und Risiken von Ansätzen zum Aufbau einer digital vernetzten Medizin werden offen und intensiv diskutiert und persönliche Erfahrungen u.a. über den Umgang mit Widerständen ausgetauscht. Die Erkenntnisse aus den Roundtable Gesprächen werden in regelmäßigen Abständen veröffentlicht und fließen in die weitere Arbeit der Stiftung ein.