Die angespannte Personalsituation in den Krankenhäusern droht die Versorgungssicherheit zu gefährden. Eine Entlastung des Personals durch weniger Bürokratie ist zwingend erforderlich. Unnötige Dokumentationsverpflichtungen, die für den Patienten keinen Mehrwert in Punkto Versorgungssicherheit oder Versorgungsverbesserung bieten, gilt es dringend zu überprüfen und zu entschlacken.
Mehrere Bundesländer und auch der Bund haben zwischenzeitlich an unterschiedlichen Stellen begonnen, sich diesem Thema anzunehmen. Doch reichen die Initiativen einzelner Bundesländer aus? Welche Änderungen auf Bundeseben sind von Nöten? Darüber diskutierten die Teilnehmer des Luncheon Roundtable der Rhön Stiftung im September.
Zu den Teilnehmern gehörten:
- Dr. Kerstin Haid, Leitende Ärztin des Medizinischen Dienstes Bund
- Dr. Susanne Johna, Vorsitzende Marburger Bund Bundesverband, Vizepräsidentin Bundesärztekammer
- Prof. Dr. Jürgen Köhler, Vorstandsvorsitzender MD Rheinland-Pfalz
- Karin Maag, unparteiisches Mitglied, G-BA
- Johannes Wolff, Referatsleiter Krankenhausvergütung, GKV-Spitzenverband, Berlin
sowie von der Stiftung Münch Professor Boris Augurzky, Eugen Münch, Professor Andreas Beivers und Annette Kennel.
Patienten sollen sicher sein, dass sie im Krankenhaus gut und ihrem Bedarf entsprechend behandelt werden. Deshalb werden sowohl die Qualität als auch die Rechnungen überprüft. Der GBA erarbeitet auf Anweisung des Gesundheitsministeriums die Richtlinien zur Überprüfung der Qualität. Der GKV-Spitzenverband legt quartalsmäßig die maximal zulässige Anzahl Abrechnungsprüfungen pro Klinik fest. Der Medizinische Dienst (MD) prüft die verlangten Informationen an jeder einzelnen Klinik. Damit das möglich ist, müssen dort alle Leistungen, Geräte, Prozesse, Mitarbeiterqualifikationen und vieles mehr dokumentiert werden.
In den Kliniken führt das mittlerweile zu einem überbordenden bürokratischen Aufwand. Für einzelne Verfahren gibt es mittlerweile über 100 Qualitätsindikatoren. „Das ist nicht mehr darstellbar“, so ein Diskutant, „da sind Nutzen und Aufwand nicht mehr im Verhältnis“. Ebenfalls problematisch sei es, dass viele Dokumentationen doppelt und dreifach in den Systemen der Kliniken erfolgen müssen, weil diese keine Schnittstellen haben. Oder gleiche Bereiche wie Traumazentrum oder Notaufnahme mehrfach hintereinander geprüft werden, jeweils mit einem anderen Fokus. Ein Teilnehmer betonte: „Wir binden damit ja nicht nur das Personal im Krankenhaus, sondern auch das Personal auf Seite der Prüfenden.“
Die Folgen des Dokumentationsaufwands in den Kliniken sind drastisch: Nach einer Studie des Marburger Bundes ist jeder Arzt pro Tag drei Stunden mit Dokumentation beschäftigt, statt die Patienten versorgen zu können. Hochgerechnet würde eine Reduktion auf die Hälfte der Zeit zu 13.500 Vollkräften führen. „Das ist eine riesige Stellschraube und es lohnt sich jede Minute, die wir hier einsparen“, betonte ein Diskussionsteilnehmer. Über Möglichkeiten nachzudenken, hier Zeit zu sparen, sei sogar zielführender, als über mehr Studienplätze zu sprechen – die wären dann, so der Diskussionsteilnehmer, gar nicht mehr unbedingt erforderlich. „Dieser Hebel ist so groß, da lohnt es sich, ins Detail zu gehen und jede einzelne Regelung zu hinterfragen. Ist sie notwendig oder überflüssig? Und wenn sie notwendig ist, ist sie dann zu kompliziert? Was wird doppelt erfasst und würde das einmal reichen?“, unterstrich er.
Sind die Regeln für die Qualitätsprüfung evidenzbasiert? Helfen sie den Patienten?
Alle Regelungen, die es gibt, sollten kritisch darauf überprüft werden, ob sie den Patienten auch helfen und evidenzbasiert sind, so ein Diskutant. Zeigt sich, dass dies nicht der Fall ist, sollten sie zumindest ausgesetzt werden. Gerade beim Nachweis von Qualitätskriterien sei oft die Sinnhaftigkeit nicht immer klar: „Wenn eine Klinik zwar einen Herzkatheter und einen Kardiologen hat, heißt das noch lange nicht, dass die erbrachte Qualität gut ist“, unterstrich ein Teilnehmer. Und bei den Qualitätsindikatoren, die der GBA auf Anweisung des Gesundheitsministeriums entwickelt, gibt es mittlerweile viel zu viele Vorgaben. Ein Teilnehmer erläuterte, dass mit der neuen Einführung eines Indikators zwar zu Beginn neue Erkenntnisse entstehen, im Laufe der Zeit jedoch der Gewinn an Erkenntnis, Qualität und Transparenz überschaubar wird. Hier soll jedoch nachgebessert werden. So wurde im Mai 2022 ein Eckpunktepapier des GBA veröffentlicht, wie einfachere Verfahren bei datengestützter Qualitätssicherung möglich sind. „Da werden wir verschlanken und damit wird es für die Leistungserbringer leichter“, so ein Diskutant.
Opt-out könnte oft helfen
In einigen Fällen könnte eine Opt-out Lösung helfen, den Aufwand zu verringern. Ein Teilnehmer brachte dazu das Beispiel des Neugeborenen-Hörscreenings. Beide Eltern müssen ihre Zustimmung geben und zur Dokumentation ein Formular unterschreiben. „Dabei gibt es praktisch keine Eltern, die das nicht wollen. Würden wir hier mit Opt-out die Unterschriften der Eltern dokumentieren, die dem widersprechen, wäre schon viel gewonnen“, so ein Teilnehmer. Dies würde für viele Fälle gelten.
Augenmaß und Verantwortungsbewusstsein
Viel Verantwortung liegt auch bei den einzelnen Personen, die die Prüfungen durchführen. „Während viele Prüfer sehr umsichtig sind, gibt es „Pfennigfuchser“, aufgrund deren Tätigkeit Probleme entstehen“, so ein Teilnehmer des Gesprächs. Das richtige Augenmaß würde manchmal fehlen. Als Beispiel wurde angeführt: Wenn in einer Schicht ein Mitarbeiter einmal krank und damit die Fachquote für kurze Zeit nicht erfüllt wird, wäre das kein Grund, dass das gesamte Jahr nicht abgerechnet werden kann. „Es kommt auf die Verantwortung der Handelnden an: Jeder muss entscheiden, ob er der Verantwortung gerecht wird, die er für das System trägt“, unterstrich ein Diskutant. Das gesamte System im Auge zu haben, fehle an vielen Stellen – das Verständnis dafür müsste verbessert werden.
Verzahnung statt Doppelprüfungen und Digitalisierung können zur Vereinfachung beitragen
Um die vielen doppelten Dokumentationen zu verhindern, ist eine stärkere Verzahnung der Prüfungen nötig und gewünscht. Wenn etwa bereits Strukturprüfungen der OPS stattgefunden haben, liege ja schon viel vor, so ein Teilnehmer: „Dann muss man nicht alles noch einmal neu im Zusammenhang mit der Leistungsgruppe prüfen.“ Ein Teilnehmer regte an, bundeslandspezifische Register anzulegen, in denen diese Informationen hinterlegt werden.
Außerdem würde eine stärkere Digitalisierung den Aufwand für die Kliniken verringern. Ein Diskutant berichtete von einer Klinik, in der nach der digitalen Transformation mehrere Vollkräfte für andere Aufgaben zur Verfügung standen – bei den gleichen bürokratischen Vorgaben. Allerdings, so ein Teilnehmer, gibt es Probleme, den Datenfluss dort hinzusteuern, wo er sinnvoll ist. Die Daten liegen vor, dürfen aber nicht genutzt werden, was ein weiterer Grund zur Mehrfachabfrage ist. Deshalb müssten die Datenschutzregeln so geändert werden, damit die Daten zusammengeführt und von allen Beteiligten verwendet werden können. Doch, so betonte ein Diskutant, sei die Digitalisierung nur EIN Schlüssel: „Ich sehe nicht, dass Digitalisierung reicht.“ Zudem wären für eine erfolgreiche Digitalisierung zunächst Investitionen nötig, die nicht schnell und ausreichend getätigt werden.
Zunehmendes Politikmarketing
Mehrere Teilnehmer des Gesprächs teilten die Beobachtung, dass zunehmendes „Politikmarketing“ zu Problemen führt. „Wenn ein Minister kurz vor Weihnachten ankündigt, dass die Kinderkliniken aus den DRG herausgenommen werden, haben wir dadurch einen riesigen Aufwand an Bürokratie“, so ein Diskutant. Die Vorgaben müssen dann geändert und angepasst und von den Kliniken eingehalten werden. Hier wäre, so die Teilnehmer, mehr Zurückhaltung wünschenswert.
Ein Teilnehmer schlug vor: „Immer, wenn eine neue Regel eingeführt wird, müssen zwei andere gestrichen werden.“ Auch wenn oft gesagt würde, dass dies im Gesundheitsbereich nicht möglich sei. Das glaube er nicht.
Verantwortung, Vertrauen und Sanktionen
„Wir prüfen und prüfen, um ein paar schwarze Schafe aufzudecken“, so ein Teilnehmer der Runde. Die meisten waren sich einig, dass dem Problem des Bürokratieüberflusses eine Misstrauenskultur zu Grunde liege. Hier müsse eine grundlegende Wende stattfinden, so die Meinungen. „Wir müssen die Verantwortung klar definieren und dann vertrauen, dass die Aufgaben erledigt werden“, so mehrere Teilnehmer. Wird aber jemand seiner Verantwortung nicht gerecht, muss es dafür harte Sanktionen geben. Auch darüber herrschte Einigkeit. Einige forderten, dass es dazu auch unangemeldete Prüfungen geben muss. Diese sind derzeit zwar theoretisch möglich, werden aber in der Praxis kaum durchgeführt.
Langfristige Planung nötig
Was das Gespräch zeigte: Alle an den Prüfungen und Vorgaben beteiligten Akteure leiden unter der Bürokratie. Im Austausch und Dialog können viele Lösungen vor Ort gefunden werden. Doch die Politik ist gefordert, übergreifende Änderungen zu ermöglichen. „Wenn wir das System immer weiter aufrüsten, wird es nicht besser.“
Zwar arbeitet die Regierungskommission des BMG derzeit an einem Bürokratieentlastungsinstrument. Der Vorstoß ist grundsätzlich positiv zu bewerten, so die Runde. Doch einige Teilnehmer der Runde zeigten sich skeptisch, ob nicht durch das Krankenhausreformgesetz sogar wieder mehr bürokratischer Aufwand entstehe. Allein für das geplante Transparenzgesetz, das Informationen über die Qualität jedes Krankenhauses geben soll, müssen die Kliniken Daten mitteilen. Und auch die Herausnahme der Vorhaltepauschalen aus den DRG berge das Risiko zunehmender Bürokratie: „Bisher haben wir dem Krankenhaus die Verantwortung gegeben und vertraut, dass die Patienten gut und angemessen behandelt werden. Dieses Vertrauen kann durch die Vorhaltepauschalen entzogen werden und dann rückt die Prüfung von einzelnen Prozessen in den Fokus.“
„Wir behandeln die Symptome, aber wir müssen die Ursache bekämpfen“, so ein Teilnehmer, „es fehlt die Zusammenschau der Probleme.“ Die Runde war sich einig, dass eine langfristige und umfassende Strategie nötig sei. Ein Diskutant merkte an: „Wir bewegen uns im Gesundheitsbereich im SGB V. Das ist ein Gesetz, das viel Einzelfallgerechtigkeit erreichen will, es aber nicht kann.“ Es hätte immer wieder Einzelfälle gegeben, die eine Gesetzesänderung dringend notwendig gemacht hätten. Die Bewertung im Hinblick auf das gesamte System sei aber eine andere: „Es kommt immer auf die Verantwortung der Handelnden an“, unterstrich er. Die Runde sah es als wichtig an, daran zu arbeiten sowie die Gesundheitskompetenz und das Wissen um das Gesundheitssystem zu verbessern, um eine „Systemkompetenz“ zu erreichen. Die gemeinsame Verantwortung müsse transparenter werden, sowohl bei den Leistungserbringern als auch bei den Patienten.