27. April 2016
„Die Ambulantisierung der Medizin wird kommen.“ Doch wie groß ist das Potential der Ambulantisierung? Macht es Sinn, das Potential sektorenübergreifend zu realisieren? Wie kann die Qualität der ambulanten Versorgung gemessen und gewährleistet werden? Wie erfolgt die Steuerung der Patienten zwischen und innerhalb der Sektoren? Und wie kann die Vergütung ausgestaltet werden? Darüber diskutierten die Teilnehmer des zweiten Luncheon Roundtable-Gesprächs 2016.
An der Gesprächsrunde waren beteiligt:
- Bernd Beyrle, Fachbereichsleiter stationäre Versorgung der Techniker Krankenkasse
- Prof. Dr. Günter Neubauer, Direktor des Instituts für Gesundheitsökonomik
- Prof. Dr. Antonius Schneider, Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der TU München
- Dr. Dominik Graf von Stillfried, Geschäftsführer des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung der Bundesrepublik Deutschland
- Prof. Dr. Leonie Sundmacher, Leiterin Fachbereich Health Service Management, LMU München
- Dr. Andreas Tecklenburg, Präsidiumsmitglied des Ressorts Krankenversorgung, Medizinische Hochschule Hannover
- Dominik Walter, Leiter Fachbereich Medizinisches Prozessmanagement, RHÖN KLINIKUM AG
- Dr. Gunther Weiss, Vorsitzender der Geschäftsführung des Universitätsklinikums Gießen-Marburg, kaufmännischer Geschäftsführer der Universitätsklinikum Gießen und Marburg GmbH
Sowie von der Stiftung Münch:
- Stephan Holzinger, Vorstandsvorsitzender
- Eugen Münch, stellvertretender Vorstandsvorsitzender
- Prof. Dr. Bernd Griewing, Vorstand
- Prof. Dr. Boris Augurzky, wissenschaftlicher Geschäftsführer
- Dr. Johannes Gruber, Geschäftsführer
- Annette Kennel, Referentin Öffentlichkeitsarbeit
Ambulante Versorgung – das heißt, Behandlung einer Erkrankung ohne Krankenhausaufenthalt. Übernommen wird diese Versorgung in der Regel von niedergelassenen Allgemein- und Fachärzten. Doch was sich so einfach anhört, ist in der Realität ein Kampfgebiet. Denn immer mehr Patienten finden sich zur ambulanten Behandlung in den Notfallambulanzen der Krankenhäuser ein, die dafür aber offiziell nicht zuständig sind und deshalb ihre Leistung auch nicht ausreichend bezahlt bekommen. Die niedergelassenen Ärzte wiederum fürchten, dass ihnen so die Patienten abhanden kommen. Die Kassen befürchten eine Art „Staubsaugereffekt“ der Krankenhäuser, der zu unnötigen stationären Aufenthalten führt und damit zu höheren Kosten für die Solidargemeinschaft. Dem steht gegenüber, dass für die Patienten eine zentrale Anlaufstelle einfacher wäre als die für sie undurchsichtigen und unwichtigen Zuständigkeiten.
Die Interessenslagen könnten also nicht unterschiedlicher sein. Einigkeit besteht aber in dem Punkt, dass die Ambulantisierung der Medizin weiter voranschreiten wird, durchaus zum Wohl des Patienten – und dass das gegenwärtige Vergütungssystem und die bestehenden Bedarfsplanungen nicht geeignet sind, um diesen Trend konsequent in der Praxis umsetzen zu können. Wie dies trotzdem gelingen kann, ist heftig umstritten und war Thema des zweiten Luncheon Roundtable-Gesprächs dieses Jahres der Stiftung Münch.
Krankenhäuser gegen Niedergelassene gegen Krankenkassen
„Die Ambulantisierung der Medizin kommt. Daran führt kein Weg vorbei!“, diesem Statement stimmten alle Teilnehmer der Diskussionsrunde zu. Denn
immer mehr Behandlungen sind ambulant möglich – nicht zuletzt wegen des medizinisch-technischen Fortschritts. Und auch die Patienten bevorzugen in
der Regel eine ambulante Versorgung. Doch immer mehr Menschen wenden sich zur Behandlung gleich an die Notfallambulanzen der Klinken – obwohl
ein großer Teil von ihnen dort gar nicht hingehört, sondern eigentlich von einem niedergelassenen Arzt behandelt werden müsste, wie es die Regeln des Systems vorsehen. Seit der Abschaffung der Praxisgebühr im Januar 2013 „fluten die Patienten die Notaufnahmen regelrecht, und zwar von Montag bis Sonntag durchgehend und nicht mehr nur zu den Zeiten, an denen die Praxen geschlossen sind“, so ein Teilnehmer. Für die Krankenhäuser ist die ambulante Notfallversorgung jedoch aufgrund ihrer anderen Kostenstrukturen im Durchschnitt ein Verlustgeschäft.
Aus Sicht der Kliniken also ein Problem: sie werden für die Versorgung der Patienten, für die sie nicht zuständig sind, nicht kostendeckend bezahlt. „Dass so viele Patienten in den Kliniken aufschlagen, ist eine Bankrotterklärung des niedergelassenen Bereichs“, so ein Teilnehmer. Die Kliniken versuchten, durch Outplacement und andere Maßnahmen, die Patienten wieder dahin zurückzuführen, wo sie hingehörten – doch dies scheitere oft nicht zuletzt an mangelnder Kooperationsbereitschaft der niedergelassenen Ärzte.
Ganz anders stellt sich dies aus Sicht der niedergelassenen Ärzte dar. Sie sind der Meinung, dass Kliniken die Ambulanzen oft nutzen, um durch stationäre Weiterbehandlung ihre Betten auszulasten, statt sie zu den niedergelassenen Fach- und Allgemeinärzten zurückzuführen. So würden den niedergelassenen Ärzten ihre Patienten weggenommen. „Wer Ambulantisierung will, muss es auch wirklich ambulant machen“, wurde gefordert.
Doch die Situation ist weitaus komplexer und daher differenzierter zu sehen. Denn in strukturschwachen und ländlichen Regionen müssten die Kliniken oft Teile der ambulanten Versorgung übernehmen, weil es an niedergelassenen Ärzten fehle. In den Städten dagegen, in denen ein starker Wettbewerb zwischen den Kliniken herrsche, würden die Ambulanzen als „Staubsauger“ der Krankenhäuser benutzt, um im Wettbewerb Patienten für die stationäre Versorgung zu gewinnen.
Ein wichtiger Hinweis auf eine nicht-koordinierte Versorgung an der ambulant-stationären Schnittstelle sind so genannte „ambulant-sensitive Krankenhausdiagnosen“. Dabei handelt es sich um Erkrankungen, die normalerweise keine stationäre Behandlung erfordern würden, aber dennoch im Krankenhaus stattfinden. Sie fallen regional sehr unterschiedlich aus. Es stellt sich die Frage, wie diese Fälle aus der stationären Behandlung genommen werden können. Wie kann also die ambulante Versorgung so gestaltet werden, dass ihr aktuelles und wachsendes Potenzial erstens im Sinne des Patienten und zweitens unter Beachtung des Aspekts der Wirtschaftlichkeit der Versorgung tatsächlich gehoben werden kann?
Es gilt, die Versorgung patientenorientierter zu gestalten und gleichzeitig Interessenskonflikte an der ambulant-stationären Schnittstelle, d.h. den befürchteten „Staubsaugereffekt“, zu vermeiden.
Aufwertung der ambulanten Medizin und gezielte Patientensteuerung
Eine gezielte Steuerung der Patienten bzw. attraktive Steuerungsangebote an Patienten könnten die Erreichung dieses Ziels maßgeblich unterstützen. Hierunter fällt der berühmte „Gatekeeper“, den es derzeit nicht wirklich gibt. „Im Moment haben wir viel unkoordinierte Medizin“, betonte ein Teilnehmer. So habe in manchen großen Städten ein Patient im Durchschnitt zwei Hausärzte – und dennoch steige der Zulauf in die Notfallversorgung der Kliniken. Eugen Münch sieht die Lösung in einer Ambulanz, die der Klinik vorgeschaltet wird und eigenständig handeln kann. Diese müsse im Wettbewerb mit den stationären Abteilungen stehen und mit der Macht ausgestattet sein, die Entscheidung zu treffen, wo der Patient weiter behandelt werden soll – auch wenn dies nicht in der Station der Klinik ist, sondern zu Hause – oder sogar in einer anderen für den Patienten besser geeigneten Klinik.
Damit dies gelingt, benötige man insbesondere eine Stärkung der ambulanten Medizin. Dies beinhaltet auch eine Umgestaltung der ärztlichen Ausbildung. „Die Tatsache, dass Abteilungen einer Klinik die Ambulanz als „Anhängsel der stationären Königreiche“ betrachten, muss der Vergangenheit angehören“, so Münch. Andere Teilnehmer pflichteten diesem Vorschlag bei: „Die Ausbildung in der Medizin ist nicht darauf ausgerichtet, es fehlen Lehrstühle für ambulante Versorgung.“ Derzeit sei es eher unattraktiv, Allgemeinarzt zu werden. Und auch die Präferenzen der neuen Ärzte-Generation, der „Generation Y“, müssen stärker berücksichtigt werden. Das bedeutet, dass das Versorgungsangebot patientenorientierter
werden und gleichzeitig attraktive Jobs für junge, nachkommende Ärzte bieten muss. Der berühmte Landarzt sei dies nicht. Ein ambulant-stationäres Gesundheitszentrum mit vielen Kollegen aus dem ärztlichen sowie dem nicht-ärztlichen Bereich, in dem ein beruflicher Austausch stattfinden kann, immer wieder vorkommende Spitzenlasten auf mehrere Schultern verteilt werden können und flexible Arbeitszeitmodelle möglich sind, könne dies schon eher leisten.
Intersektorale Bedarfsplanung, Definition von Versorgungszielen und neues Vergütungssystem
Ein weiterer zentraler Punkt, um die Ambulantisierung zu organisieren, sei die Klärung der Finanzierung. „Das Vergütungssystem ist der Schlüssel, um das System zu ändern“, so wurde es formuliert. Das derzeitige Vergütungssystem und die Sektorengrenzen stünden derzeit einer Ausschöpfung des ambulanten Potenzials entgegen. Möglicherweise muss man stärker über populationsbezogene Vergütungsmodell nachdenken, d.h. dass die Versorgung der Bevölkerung einer ganzen Region aus einer Hand erfolgt und pauschal nach der vorliegenden Morbidität vergütet wird. Schnittstellenprobleme würden dann entfallen. Außerdem sei eine andere Form der Bedarfsplanung mit fest definierten Versorgungszielen erforderlich. Dabei müsse grundsätzlich sektorenübergreifend und vom Patienten her gedacht werden. Derzeit wird der Bedarf für die ambulante und für die stationäre Versorgung getrennt geplant. Diese unterschiedlichen Planungen müssten zusammengeführt werden. Auch eine Versorgungsforschung, die die tatsächlichen Bedürfnisse evaluiere, sei eine Voraussetzung. Weitere Baustellen seien die unterschiedlichen Leistungsbeschreibungen im stationären und ambulanten Bereich, die dringend vereinheitlicht werden müssten.
Ein aktuell getesteter Lösungsvorschlag ist die Einführung von Hybrid-DRGs, die insbesondere bei Patienten angewendet werden können, die für eine Genesung zu Hause zu krank, aber für eine stationäre Therapie zu gesund seien. Gerade der Anteil an diesen Patienten wird mit der zunehmenden Zahl älterer Menschen steigen. Hier erfordere es Angebote, die diesen Zwischenbereich abdecken. „Man könnte zum Beispiel die Therapie an einer Klinik anbieten, die Patienten aber in einem Patientenhotel im direkten Umfeld unterbringen“, lautete ein Vorschlag. Auch sollte es in Zukunft technisch möglich sein, den Patienten über digitale Produkte stärker in seinem häuslichen Umfeld zu versorgen. Ein Teilnehmer sprach von einem Trend zur „Domestizierung der Medizin“. Doch müsse darauf geachtet werden, dass nicht dauerhaft eine dritte Versorgungssäule etabliert würde. Dazu seien dringend gesetzliche Rahmenbedingungen erforderlich.
Patientenorientierte Versorgung muss aber nicht bedeuten, dass Patienten grundsätzlich von jeglichen Zuzahlungen für alle Zeiten befreit sein müssen. Ein Teilnehmer: „Derzeit ist in Deutschland das Krankenhaus mit zehn Euro pro Tag das günstigste Hotel.“ Hier könnte die Schaffung eines Kostenbewusstseins hilfreich sein, gerade wenn die Steuerung der Patienten verbesserungswürdig ist. Geeignete und sozial abgefederte Zuzahlungen der Patienten würden eine große Steuerungswirkung entfalten können.
Orientierung des Systems am Patientenwohl
Doch während alle Seiten hitzig diskutieren, fehlt die Sicht derer, die vorgeblich doch stets im Mittelpunkt aller Bemühungen stehen – der Patienten und Beitragszahler. Es ist zu vermuten, dass viele einfach ins Krankenhaus gehen, weil sie in dem komplizierten Geflecht schlicht nicht wissen, wer denn im konkreten Fall zuständig sein müsste. Weil sie innerhalb einer angemessenen Frist keinen Termin bei ihrem Facharzt bekommen. Oder weil sie im Krankenhaus die Bündelung aller wichtigen Fachrichtung vermuten, um eine Reise von Arzt zu Arzt, Doppeluntersuchungen und Zeitverlust zu vermeiden, bis endlich die Diagnose gefunden ist und die Therapie beginnen kann. Und auch, weil sie dort wenigstens etwas über die Qualität der Behandlung erfahren können – was im niedergelassenen Bereich völlig fehlt. All das spricht dafür, dass die Netzwerkmedizin mit dem Konzept eines besonders ausgebildeten „Generalisten“ als Betreuungsarzt, der den Patienten an die Hand nimmt und durch die Disziplinen lotst genau das ist, was Patienten wünschen und brauchen.
Ziel der Luncheon Roundtable Gespräche ist eine offene Diskussion über völlig neue Formen der Medizin im digitalen Zeitalter. Experten aus verschiedenen Branchen kommen zusammen, um ihre Erfahrungen auszutauschen. Chancen und Risiken von Ansätzen zum Aufbau einer digital vernetzten Medizin werden offen und intensiv diskutiert und persönliche Erfahrungen u.a. über den Umgang mit Widerständen ausgetauscht. Die Erkenntnisse aus den Roundtable Gesprächen werden in regelmäßigen Abständen veröffentlicht und fließen in die weitere Arbeit der Stiftung ein.