Bundesgesundheitsminister Lauterbach hat verkündet, das DRG-System überwinden und die Medizin entökonomisieren zu wollen. Eine von ihm eingesetzte Reformkommission arbeitet gerade an einem Vorschlag, wie die Finanzierung neugestaltet werden kann. Ende August hat der AOK-Bundesverband einen Vorschlag vorgelegt, in dem die Vorhaltekosten aus den DRG ausgegliedert werden. Dieser Vorschlag stieß auf große Resonanz. Könnte damit eine Verbesserung der Versorgung hin zu mehr bedarfsorientierten Leistungsmengen und Strukturen erreicht werden?
Darüber diskutierten die Teilnehmer des Luncheon Roundtables der Stiftung Münch im November. Zu den Teilnehmern gehörten:
- Claudia Bernhard, Die Senatorin für Gesundheit, Frauen und Verbraucherschutz der Freien Hansestadt Bremen
- Nils Dehne, Geschäftsführer, Allianz Kommunaler Großkrankenhäuser e.V.
- Dr. Layla Distler, Referatsleiterin Krankenhauswesen, sektorenübergreifende Versorgung, Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg
- Prof. Christian Karagiannidis, Geschäftsführender Oberarzt, Leiter des ECMO Zentrums, Kliniken Köln
- Dr. Simon Loeser, Bereichsleiter, AOK Rheinland/Hamburg – Die Gesundheitskasse
- Prof. Jörg Martin, Geschäftsführer, RKH-Kliniken
- Bernadette Rümmelin, Geschäftsführerin (Sprecherin), Katholischer Krankenhausverband Deutschlands e.V.
- Dr. Dominik Graf von Stillfried, Geschäftsführer, Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung
- Stefan Wöhrmann, Leiter Abteilung Stationäre Versorgung, Verband der Ersatzkassen e.V. (vdek), Berlin, Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek)
- Michael Zaske, Abteilungsleiter Gesundheit, Ministerium für Soziales, Gesundheit, Integration und Verbraucherschutz des Landes Brandenburg
sowie von der Stiftung Münch Professor Boris Augurzky, Eugen Münch, Professor Bernd Griewing, Professor Andreas Beivers und Annette Kennel.
Von der Einzelfalleffizienz zur Systemeffizienz: Anreize neu setzen, um bedarfsgerechte Leistungsmengen zu bekommen
Die Einführung der DRG vor rund 20 Jahren hat viel geleistet für die Einzelfalleffizienz. Doch sie setzen auch Fehlanreize. Durch die Belohnung der erbrachten Fallmenge wird das Gesamtsystem an seine Grenzen gebracht. „Wir müssen die solidarisch finanzierte Spitzenversorgung sichern, und zwar nach dem Maximalprinzip“, so ein Teilnehmer, „also mit den gegebenen Mitteln das Beste für die Versorgung erreichen.“ Die Patienten müssen im richtigen Setting behandelt und Fehlanreize reduziert werden. „Und wir müssen raus aus dem Hamsterrad und wieder mehr Zeit für die Behandlung haben“, so ein Diskutant.
Mit einem viel beachteten Vorschlag hat sich der AOK-Bundesverband Ende August gemeldet. Er schlägt vor, die Vorhaltekosten aus den DRG herauszunehmen. Ziel ist dabei, bedarfsgerechte Leistungsmengen und Strukturen durch eine Koppelung von Vorhaltefinanzierung und Krankenhausplanung zu erreichen. Über die derzeitige Vollkosten-Pauschale, die auch Fixkosten anteilig abgedeckt, entsteht ein großer Mengenanreiz, erläuterte ein Teilnehmer des Gesprächs. Deshalb sollen in dem Vorschlag des AOK-Bundesverbandes für die Vorhaltefinanzierung die fixen Betriebskosten aus der DRG herausgenommen werden. Damit wird die fallbezogene Finanzierung reduziert.
Dazu schlägt er ein 10-20-30-40-Modell vor: Die Kosten eines Krankenhauses setzen sich grob zusammen aus 10% Investitionskosten, 20% Pflegekosten, 30% Vorhalte- und 40% variable Betriebskosten. Die 30% Vorhaltekosten sollen künftig von den DRG abgezogen werden. Der Betrag soll vom Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) zum Beispiel auf Basis der in NRW definierten Leistungsbereiche für die gesamten Behandlungen, die in Deutschland durchgeführt wurden, pro Kopf in der Bevölkerung berechnet und festgelegt werden. Der Vorhalteanteil soll normativ festgelegt werden. Die Bundesländer definieren dann den Versorgungsauftrag für die Kliniken, die das Vorhaltebudget je Leistungsbereich zu Beginn eines Jahres vom Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) erhalten. Wichtig ist, dass für jede Behandlung nur einmal ein Versorgungsauftrag vergeben werden kann.
So würde zum Beispiel ein Vorhaltebudget für neurochirurgische Behandlungen vom InEK festgelegt. Das Bundesland erteilt einer Klinik einen Versorgungsauftrag für die Bevölkerung in der Region um das Krankenhaus. Das Vorhaltebudget ergibt sich aus der Multiplikation des Pro-Kopf-Betrags mit der zu versorgenden Bevölkerungszahl.
Der erteilte Versorgungsauftrag müsste regelmäßig, zum Beispiel im Turnus von zwei Jahren, überprüft werden. Hat ein Krankenhaus in der Zwischenzeit mehr Patienten eines anderen Krankenhauses versorgt, erhöht sich sein Vorhaltebudget. Wichtig sei es, betonte ein Diskutant, dass die Länder die Versorgungsaufträge verteilen – und zwar für jeden Menschen einmal. „Sonst backen wir den Kuchen jedes Jahr größer“, so ein Teilnehmer, „das geht aber nicht.“
Der Vorschlag sei „eine sanfte Änderung“. Denn zunächst ändert sich für das einzelne Krankenhaus nichts, es erhält dasselbe Budget wie vorher. Im Laufe der Zeit ändert es sich durch den angepassten Versorgungsauftrag der Länder. Das bedeutet, es gibt eine Konvergenzphase, die viele Teilnehmer der Runde als wichtig erachten. Für die Zukunft seien jedoch starke Anreize zur Schwerpunktbildung gesetzt – sowohl für die Krankenhausträger als auch für das Bundesland.
Weitere Vorteile des vorgeschlagenen Konzepts: Auch Qualitätsaspekte können berücksichtigt werden, insbesondere über Strukturqualitätsparameter. Viele Bestandteile der Krankenhausvergütung wie FDA-Absenkungen, mengenanfällige Leistungen oder Notzuschläge würden vereinfacht, da die Kliniken eine bedarfsgerechte Vorhaltefinanzierung erhalten.
30%, zu viel oder zu wenig?
Das Herausnehmen von Vorhaltekosten aus den DRG fand große Zustimmung bei den Teilnehmern der Diskussion. Damit würde sowohl die Schwerpunktbildung als auch die Sicherstellung der Daseinsvorsorge unterstützt. Doch wie hoch der Vorhalteanteil in der Krankenhausvergütung sein soll, müsse genau überlegt werden. Ist er zu hoch, würden die Mediziner „faul“. Wäre er zu niedrig, bestünde kein Anreiz, weniger zu operieren und das System würde sich nicht verändern. Ein Stimmungsbild unter den Teilnehmern ergab, dass ein Abschlag von 30 bis 35% als sinnvoll gesehen wird.
Bundeseinheitlicher Wert und Orientierung an Leistungsbereichen: zu grob für das komplexe System?
Nach dem Vorschlag des AOK-Bundesverbandes wird die Vorhaltefinanzierung bundesweit einheitlich auf der Ebene der Leistungsbereiche, wie sie in NRW neuerdings verwendet werden, festgelegt. Es sei sehr wichtig, dass diese Vorgabe vom Bund kommt und dann alle Länder „die gleiche Sprache“ sprechen. „Der Zuwachs an Komplexität ist massiv, deshalb müssen wir einen normativ einheitlichen Prozentsatz über alle Leistungsbereiche legen. Nur dann ist die Vorhaltefinanzierung steuerbar und jeder weiß, woran er ist“, erläuterte ein Teilnehmer.
Doch dieser Punkt führte zu kontroversen Diskussionen. Ein Diskutant unterstrich: „Man will es einfach halten, aber wenn ich mit einem einfachen Instrument auf eine komplexe Versorgungssituation treffe, wird es dieser nicht gerecht.“ Auch andere Teilnehmer fanden den einheitlichen Vorhalteanteil zu grob und zeigten sich überzeugt, dass damit die regionalen Versorgungsrealitäten nicht adäquat abgebildet werden können. Damit würde nicht die gewünschte Wirkung auf die Versorgungsstruktur erreicht.
Regionale Besonderheiten müssten ebenso mitberücksichtigt werden wie die unterschiedliche Komplexität einzelner Leistungen. „Die Vorhaltekostenfinanzierung macht nur Sinn, wenn sie auf bedarfsgerechte Strukturen bezogen wird“, so ein Teilnehmer. Heute hätte man die Rahmenplanung der Länder, die aber oft unterschiedlich ausgelegt werde. Deshalb würde es nicht ausreichen, die Planung bundesweit auf die Leistungsbereiche umzustellen. Besser wäre es, so die Meinung einiger Teilnehmer, sich an den Fachbereichsweiterbildungsverordnungen der Ärzte zu orientieren. Diese seien einigermaßen klar definiert. Damit hätte man im Ergebnis unterschiedliche Vorhalteanteile innerhalb eines Fachbereichs besser abgebildet.
Als Beispiel wurde die Geburtshilfe aufgeführt – einem Fachbereich, der an sich nicht sehr kompliziert ist. Hier fallen hohe Vorhaltekosten an. Bei kleinen Abteilungen sind sie durch die DRG-Erlöse nicht abgedeckt, so dass sich die Geburtshilfe dann nicht rechnet. Deshalb wurde von Regierungskommission eine Finanzierungsverbesserung erarbeitet. Dies sei ein Paradebeispiel, dass für die regionale Versorgung erst einmal die Vorhaltung als Basis definiert werden müsse, so ein Diskutant. Ein anderer wies darauf hin, dass mit der Vorhaltefinanzierung mehrere Ziele erreicht werden: den Mengenanreiz reduzieren sowie die Vorhaltung besser vergüten – und zwar dort, wo sie nötig ist.
Diskutiert wurde zudem darüber, ob Vorhaltekosten auch für elektive Leistungen gelten sollen. Einige Teilnehmer betonten, dass allerdings das Herausnehmen elektiver Leistungen das Konzept konterkarieren würde: „Wenn Sie für eine Hüfte wieder die vollen Kosten bekommen, haben Sie nichts erreicht.“ Ein weiterer betonte, dass die Reduktion des Mengenanreizes auch bei Elektivfällen gelten müsse.
Wettbewerbsverzerrung bei ambulanten Leistungen zwischen Kassenärzten und Krankenhäusern?
Dass mehr Leistungen ambulant erbracht werden können und müssen, ist mittlerweile allgemein akzeptiert. Deshalb muss die Ambulantisierung auch bei der Vorhaltefinanzierung mit bedacht werden. Der ambulante und der stationäre Bereich seien kommunizierende Röhren, so ein Teilnehmer: „Wenn der vertragsärztliche Bereich stark ist, haben wir weniger stationäre Fälle und vice versa.“ Deshalb muss es Bestandteil der Planungen sein, was ambulantisierbar ist und wie man dies erreichen möchte. Nur dann könnten Vorhalteleistungen pauschal beplant werden.
Ein Diskutant erläuterte, dass in dem Konzept der AOK die Schnittstellen zum ambulanten Bereich mitgedacht sind. Entscheidend sei, dass ein Versorgungsauftrag nur einmal für jede Person vergeben werden kann und dass die Klinik das Vorhaltebudget für den definierten Leistungsbereich erhält – egal, ob die Behandlung stationär oder ambulant erfolgte. Dementsprechend wies ein Teilnehmer darauf hin, dass die Vorhaltefinanzierung auch für das ambulantisierbare stationäre Leistungsgeschehen gut geeignet wäre. Allerdings entstehe ein Wettbewerb zu den KV-Leistungsangeboten. So könnte ein großes MVZ in manchen Fällen die gleiche ambulante Versorgung wie ein Krankenhaus anbieten, erhielte aber kein Vorhaltebudget. Damit entstehe eine Wettbewerbsverzerrung. Deshalb stehe dem auch das europäische Beihilferecht im Wege. Zudem erhielten ambulante Angebote keine Investitionsfördermittel der Länder. Damit würde das Krankenhaus für die Erbringung der gleichen Leistung sowohl die sektorengleiche Vergütung als auch die Vorhaltepauschale und Investitionsfördermittel erhalten, rein ambulante Versorgungseinrichtungen aber nicht.
Ein Diskutant merkte an, er sei desillusioniert, was die Ambulantisierung betreffe. So würde man seit der Einführung des §115 im KG3 sehen, dass die Leistungen sich nicht ergänzen, sondern gegenseitig aufschaukeln. So würden zum Beispiel mittlerweile deutlich mehr Kataraktoperationen stattfinden. „Wir haben nicht zu viele Fälle, sondern ein Problem mit medizinischem Aktivismus überall da, wo Schlupflöcher in der Vergütung bestehen.“ Deshalb sei es besonders wichtig, die Vorhaltung strukturangepasst zu definieren.
Mehr politische Verantwortung und mehr Gestaltungsfreiheit für die Länder
Würde der Vorschlag der Vorhaltefinanzierung angenommen, würden zig Milliarden Euro Vorhaltekosten an die Länder ausgeschüttet, die dann entscheiden, wer wie viel bekommt.
Dass die Länder mehr Gestaltungsfreiheit und gleichzeitig die Verantwortung dafür bekommen, sahen die Diskutanten positiv. Die Planungshoheit bekäme eine andere Schlagkraft. „Wir hätten dann zwar viele politische Diskussionen, die nicht lustig sind; weil selbst minimale Veränderungen zu Diskussionen führen“, so ein Teilnehmer. Aber es sei die Rolle der Politik, Verantwortung zu übernehmen. Denn es brauche radikale Veränderungen. „Wenn man springen will, muss man sich auch nass machen“, so ein weiterer Diskutant, „wir brauchen eine Strukturbereinigung. Sonst fahren wir mit Vollgas gegen die Wand.“ Ein Teilnehmer ging sogar so weit, darüber nachzudenken, in passenden Regionen die Vorhaltebudgets zu sektorenübergreifenden Regionalbudgets auszubauen. Dann erhöhte sich die Gestaltungsfreiheit auf regionaler Ebene, die nötig sei, um innovative Lösungen für die anstehenden Herausforderungen im Gesundheitswesen zu finden.