Dass der demografische Wandel tiefe Löcher in das Finanzierungssystem der gesetzlichen Krankenkassen reißen wird, ist lange bekannt. In den vergangenen zehn Jahren konnten durch die großen Einnahmenüberschüsse die hohen Ausgabenzuwächse noch kompensiert werden. Damit wurde das anstehende Problem politisch aus den Augen verloren und fand auch keinen Eingang in den Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung.
Doch die Corona-Pandemie und nun der Krieg in der Ukraine haben die Problematik verstärkt und für nächstes Jahr steht ein hohes Finanzdefizit im Raum. Es besteht also dringender Handlungsbedarf. Wie können die Leistungen für die Versicherten erhalten bleiben, ohne dass der Beitragssatz erhöht werden muss? Darüber sprachen die Teilnehmer des Luncheon Roundtables der Stiftung Münch im Mai.
Zu den Teilnehmern gehörten:
- Jan Carels, Geschäftsführer Gesundheitspolitik, Verband Forschender Arzneimittelhersteller e.V
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Katja Kohfeld, Leiterin der Unterabteilung 22 Krankenversicherung, Bundesministerium für Gesundheit
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Dr. Wulf-Dietrich Leber, Abteilungsleiter Krankenhäuser, GKV-Spitzenverband
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Dr. Jörg Meyers-Middendorf, Vertreter des Vorstandes, vdek
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Christoph Rupprecht, Stabsbereichsleiter Gesundheitspolitik, AOK Rheinland/Hamburg
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Prof. Christoph M. Schmidt, Präsident, RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung e.V
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Dr. Frank Schulze Ehring, Leiter der Stabsstelle Kooperationen & Grundsatzfragen, Verband der Privaten Krankenversicherung e.V.
sowie von der Stiftung Münch Professor Boris Augurzky (Vorstandsvorsitzender), Eugen Münch (Stv. Vorstandsvorsitzender), Professor Andreas Beivers (Leiter wissenschaftliche Projekte) und Annette Kennel (Geschäftsführerin).
Bisher ist der Etat für Krankenhäuser doppelt so hoch wie der Etat für Verteidigung: Ukraine-Krieg wird Umverteilung zur Folge haben
Bisher wurden die hohen Ausgaben der GKV durch die hohen Einnahmen gedeckt. Und während der Pandemie sorgte ein großes finanzielles Engagement des Bundes für Ausgleich. So wurden den Krankenhäusern im Jahr 2020 zehn Milliarden Euro an Freihaltepauschalen ausgezahlt, die GKV erhielt 14 Milliarden an Zuschüssen. Doch die Zahlungen werden nicht automatisch verlängert und, so formulierte ein Teilnehmer der Diskussion, es drohe nun ein „kalter Entzug“.
Schätzungen gehen von einem Ausgabendefizit im nächsten Jahr von 17 Milliarden Euro aus. Doch es kursiert auch die Summe von 20 Milliarden Euro, die, so waren sich einige Teilnehmer einig, auch nicht ausgeschlossen werden könne. Dabei, so erläuterte ein Teilnehmer des Gesprächs, sei die derzeitige Inflationsentwicklung beim Finanzbedarf noch nicht berücksichtigt.
Mit dem Beginn des Krieges in der Ukraine hat sich die Situation dramatisch verändert. „Der Krieg hat eine schwierige Finanzlage geschaffen. Also beschäftigt man sich als Volkswirt jetzt wieder mit dem Bundeshaushalt“, fasste es ein Diskutant zusammen. In diesem sind bisher die Ausgaben für die Krankenhäuser mit 100 Milliarden Euro beziffert – und liegen damit doppelt so hoch wie der Etat für Verteidigung. Es ist davon auszugehen, dass sich dies ändert und der Verteidigungshaushalt wachsen wird.
„Wir haben einen zweiten Gesundheitsminister namens Christian Lindner“
Es besteht also dringender Handlungsbedarf, um den Versicherten weiterhin eine uneingeschränkte medizinische Versorgung zu ermöglichen – und dies ist der erklärte Wille der Politik und der relevanten Akteure im Gesundheitswesen. Lösungen müssen schnell gefunden werden, sonst, so fasste ein Diskutant zusammen, würde das eine Beitragserhöhung für jeden Versicherten von über einem Prozentpunkt ab 2023 bedeuten.
Um das Defizit der GKV abzufangen, kursierte im März kurz der „Referentenentwurf GKV Finanzierungsstabilisierungsgesetz“. Doch, so ein Diskutant, dieser sei bereits nach vier Stunden wieder einkassiert worden: „Das war nicht ordentlich mit dem Finanzministerium abgestimmt und alle Ausgabenbeschränkungen waren auf Arzneimittel beschränkt.“
In den nächsten Entwurf, der besser abgestimmt werden muss, sollten folgende Punkte in die Finanzierungsbeziehung zwischen Bund und GKV einfließen: eine Dynamisierung des Bundeszuschusses; die Anhebung der Beiträge für Bezieher von Arbeitslosengeld 2; die Halbierung der Mehrwertsteuer auf Arzneimittel; eine Neuregelung der Vorhaltefinanzierung; ein Bundeszuschuss zur Pflegeversicherung sowie die Übernahme der Rentenversicherungsbeiträge für pflegende Angehörige. So erläuterte es ein Teilnehmer des Gesprächs.
Doch es gibt bei den geplanten Ausgaben des Bundes grundsätzlich einen Finanzvorbehalt. „Hier haben wir eine fundamental neue Situation“, unterstrich er. Früher hieß es in den Verordnungen „der Gesundheitsminister kann“ – dies sei nun um den Zusatz „mit der Zustimmung des Finanzministers“ ergänzt. „Damit haben wir einen zweiten Gesundheitsminister namens Christian Lindner.“
Große Unsicherheiten bei den Prognosen, Umschichtung im Bundeshaushalt wird kommen
Eine genaue Prognose, die für eine Beurteilung der Finanzlage der GKV im kommenden Jahr herangezogen werden kann, ist angesichts der politischen Entwicklung nicht einfach und die Unsicherheiten sind besonders hoch, wie ein Teilnehmer betonte. Die aktuellen Prognosen haben die Annahme getroffen, dass es keine Eskalation des Krieges über die Grenzen der Ukraine hinaus gibt und die Öl- und Gaslieferungen bestehen bleiben. In dem Fall könnte die Inflation im nächsten Jahr wieder bei drei Prozent liegen und sich normalisieren. Bei weiteren Eskalationen und vor allem einem Wegbrechen der Gaslieferungen verfestigen sich dagegen die Inflationserwartungen. „Dann wird es schwer, wieder runterzukommen“, so der Diskutant. Er fasste zusammen: „Die realwirtschaftliche Situation ist, dass wir günstig Energie bezogen haben. Diese Situation ist vorbei.“ Dazu komme, dass der Rüstungsetat niedrig sei, weil man sich auf Kosten anderer, insbesondere der USA, sicher gefühlt habe. Auch diese Situation habe sich geändert. In der Konsequenz werde es zu Umschichtungen im Bundeshaushalt kommen. Erschwerend sei, dass die Generation der „Babyboomer“ nun ins Rentenalter kommt, was zusätzlich zu steigenden Ausgaben und sinkenden Einnahmen führt.
GKV: Beschäftigungsquoten besser als erwartet, Verschiebung der Leistungsbereiche zeichnet sich ab
Für die GKV habe man für das Frühjahr ein Einbrechen der Einnahmen prognostiziert. Hier sind jedoch positive Entwicklungen zu erkennen, da die Beschäftigungsquoten besser seien als erwartet, wie ein Gesprächsteilnehmer erläuterte. Doch dem gegenüber steht eine steigende Ausgabendynamik. Diese sei zum Teil demografisch bedingt. Doch es zeigen sich Bereiche, in denen die Ausgaben besonders steigen. Dazu gehören zum Beispiel die Heilmittelversorgung, die häusliche Pflege und die Krankentransporte. „Das sind alles vermeintlich kleine Bereiche und im Vergleich zur Krankenhausversorgung gering“, so ein Diskussionsteilnehmer. Doch die Dynamik zeige, dass sich die Versorgung in der GKV verschiebt und die einzelnen Leistungsbereiche neu gewichtet werden.
Defizit nicht durch Umwandlung der Einnahmen „wie auf dem Verschiebebahnhof“ bekämpfen
Erstmals haben in diesem Jahr die Ausgaben für Gesundheit 13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts überschritten. „Und die Entwicklung geht erst los,“ so ein Diskussionsteilnehmer. Pflegebedürftige müssten durch die Tariferhöhungen bald 500 bis 1.000 Euro monatlich mehr bezahlen. Da die Mehrheit das nicht leisten kann, müssten Sozialämter einspringen, was wiederum zu einer höheren Belastung der Kommunalhaushalte führt. Deshalb, so forderte er, müsste man stärker auf die Ausgaben achten und nicht durch bloße Umverteilungen im Bundeshaushalt „wie auf dem Verschiebebahnhof“ die Einnahmen der GKV erhöhen.
Durch eine solche Verschiebung können zwar kurzfristig Löcher der GKV gestopft und etwas Zeit gewonnen werden, um über strukturelle Änderungen nachzudenken. Dringend nötig ist jedoch eine langfristige Umstellung des Gesundheitssystems. Diese ist nicht in einer Legislatur möglich, die Weichen müssen aber jetzt gestellt werden. „Sonst schiebt die jetzige Regierung den schwarzen Peter der nächsten Regierung zu, und die macht dann auch nichts“, merkte ein Diskutant an.
Kurzfristige Lösungen für den 1. Januar 2023: „Bis November warten ist ein Fehler“
Doch das 17-Milliarden-Defizit steht im Raum und es braucht Lösungen, wie es nächstes Jahr abgefangen werden kann. Bis zum Sommer müsste dringend eine strukturelle Transparenz über die Ausgaben und die Finanzierung vorliegen und prinzipielle Klarheit geschaffen werden, forderten einige Teilnehmer. Bis November zu warten, wie es derzeit geplant ist, ist ein Fehler, mahnten sie.
Einsparungen dürften nur dort stattfinden, wo es die Versorgung der Menschen nicht verschlechtert. Stattdessen müssen wenig effiziente Angebote „ausgemistet“ werden. „Wir müssen in die Lage versetzt werden, die Ausgaben qualitätsgesichert und gezielt einzusetzen“, forderte ein Diskussionsteilnehmer. Bisher würden 15 Prozent der Ausgaben nicht nach Effizienz geschehen, sagte er. Insbesondere die Honorierung der Leistungen müsse evidenzorientiert erfolgen und dies sei derzeit weder bei Ärzten noch Kliniken der Fall.
Wirtschaftswachstum nicht durch Einsparungen abwürgen
Ein Teilnehmer warnte, dass durch Einsparungen das Wirtschaftswachstum nicht abgewürgt werden darf. Bei manchen Bereichen sei das Einsparpotenzial zwar am höchsten, aber deren Produktivität kurble wiederum auch die Wirtschaft an. Aktuell ist die Branche mit der höchsten Produktivität die Pharmaindustrie. Deshalb, so warnte ein Teilnehmer, sollte hier nicht reduziert werden, um das Wirtschaftswachstum der nächsten zehn bis 20 Jahre nicht zu gefährden. So sah er auch Zwangsrabatte für Arzneimittelhersteller kritisch: „Das führt zu Investitionsverlusten in Deutschland.“
Weichen stellen: Stellschrauben sind bekannt
Welche Themen für eine langfristige Änderung angegangen werden müssten, ist bekannt: Stärkere Ambulantisierung und sektorenübergreifende Versorgung, eine Neuregelung der Vergütung und eine Optimierung der Krankenhauslandschaft, die Umsetzung von Strukturvorgaben wie zum Beispiel Mindestmengen. Um effiziente von weniger effizienten Angebote zu trennen, sind außerdem Transparenz und Daten notwendig.
Wie so oft, gibt es kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem. Doch das Finanzierungsdefizit ist groß und wird größer. Und es ist zu groß, um einfach weiterzumachen wie bisher.