15. Februar 2019
„Die elektronische Patientenakte – Vielfalt versus Einfalt?“ – zu diesem Thema tauschen sich die Teilnehmer des ersten Luncheon Roundtables der Stiftung Münch im Februar aus.
Zu den Teilnehmern gehörten:
- Markus Bönig, Geschäftsführer Vitabook GmbH
- Daniel Cardinal, Geschäftsbereichsleiter für Versorgungsinnovationen, TK
- Bernhard Calmer, Director Business Development, Cerner Health Services Deutschland GmbH
- Mark Langguth, Leiter Produktmanagement, Gematik
- Dr. Tobias Müller, Leiter Stabsstelle „digitale Transformation“, RHÖN-KLINIKUM AG
- Dr. Hans Unterhuber, Vorstandsvorsitzender Siemens BKK
- Kai-Helge Vogel, Leiter Gesundheit und Pflege (Geschäftsbereich Verbraucherpolitik) der Verbraucherzentrale Bundesverband e.V.
sowie von der Stiftung Münch Stephan Holzinger (Vorstandsvorsitzender), Eugen Münch (stv. Vorstandsvorsitzender), Professor Boris Augurzky (wiss. Geschäftsführer) und Annette Kennel.
„Ich fühle mich wie ein Dinosaurier. Vor 15 Jahren saß ich dabei, als eine elektronische Gesundheitsakte eingeführt werden sollte. Jetzt sitze ich immer noch da und es ist praktisch nichts passiert. Außer, dass wir mittlerweile vom Smartphone überholt wurden“, eröffnete ein Teilnehmer des Luncheon Roundtables die Diskussion. Die Geschichte ist in der Tat lang: Bereits 2004 wurde im Rahmen des GKV-Gesundheitsmodernisierungsgesetzes beschlossen, eine elektronische Gesundheitskarte einzuführen und die Telematikinfrastruktur (TI) aufzubauen – mit Start zum 1. Januar 2006. Die Umsetzung scheiterte.
Ab 2011 wurden stufenweise die neuen Versicherungskarten ausgegeben, seit 2015 sind sie Pflicht und enthalten ein Bild und die Daten des Versicherten (Name, Adresse, Versichertennummer und -status sowie das Geschlecht), auf der Rückseite findet sich die europäische Krankenversicherungskarte. Der Ärztetag lehnte noch bis 2013 die Einführung vehement ab. Erst 2015 gab es ein Umdenken: Man lehne zwar ein verpflichtendes Stammdatenmanagement ab, jedoch sei zum Beispiel die Erfassung des Impfstatus auf der Karte sinnvoll.
Mit dem E-Health-Gesetz, das zum 1. Januar 2016 in Kraft trat, wurde nicht nur geregelt, dass auf der elektronischen Gesundheitskarte auch die Notfalldaten eingetragen werden dürfen, sondern zudem die Basis für die Einführung einer elektronischen Patientenakte (ePA) gelegt.
Wem nutzt die elektronische Patientenakte?
Drei Anwendungen für die elektronische Patientenakte gibt es: Erstens können die Leistungserbringer untereinander damit Informationen über einen Patienten teilen. Zweitens besteht die Möglichkeit, dass die Inhalte der Akte dem Patienten zugänglich gemacht werden. Und drittens erhalten auch Patienten die Möglichkeit, selbst erhobene Daten einzustellen und dem Arzt verfügbar zu machen. Nach den im Dezember 2018 von der Gematik vorgelegten Spezifikationen würden alle drei Dimensionen ab 2021 vorhanden sein. Die Patienten können dann ihre Dokumente selbständig verwalten. Politisch priorisiert sei jedoch der Start über die Anwendung der Ärzte, was seinen Ausdruck in den Vorgaben für die Gematik findet, merkte ein Teilnehmer der Diskussion an. Ein anderer betonte, dass auch die Bereiche Reha und Pflege eingeschlossen werden müssten.
Die Mehrheit der Bevölkerung befürwortet eine elektronische Gesundheitsakte – die Zustimmung steigt mit einer zunehmenden Anzahl erforderlicher Arztbesuche an. Der Datenschutz wird dabei als wichtig erachtet, jedoch herrsche eine durchaus differenzierte Sichtweise vor und der Wunsch, dass dieser die Vorteile – unter anderem einer Verbesserung der Versorgungsabläufe oder lebensrettende Maßnahmen im Notfall – nicht verhindere. Auch der Nutzung der Daten in anonymer Form für wissenschaftliche Zwecke steht die Mehrheit der Bevölkerung aufgeschlossen gegenüber (eine repräsentative Befragung zu dem Thema finden Sie HIER). Natürlich gebe es auch „Verweigerer“, diese müssten auch weiterhin die Möglichkeit haben, das Angebot abzulehnen, unterstrich ein Diskussionsteilnehmer.
Ab 2021 sind nach der Regelung im neuen Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) die gesetzlichen Krankenkassen verpflichtet, allen Versicherten eine ePA zur Verfügung zu stellen, die von der Gematik zugelassen ist. Bereits jetzt bieten zahlreiche Kassen und auch einzelne private Unternehmen eine ePA an. Einig waren sich die Teilnehmer der Gesprächsrunde, dass diese keine Insellösungen sind – alle weisen die erforderlichen Schnittstellen zur Telematikinfrastruktur (TI) auf und können allgemein zur Verfügung gestellt werden. Damit könnten die Patienten die Akte wählen und beim Wechsel der Kasse ihre in der Akte enthaltenen Daten mitnehmen.
Viel wird darüber diskutiert, wem die Daten gehören. Gehört ein Röntgenbild demjenigen, der es gemacht hat? Der Krankenkasse, die dafür bezahlt? Dem Patienten, der abgebildet wird? Oder demjenigen, der die Daten „veredelt“, also eine Diagnose daraus ableitet? Teilnehmer bekräftigten, dass die Verwertungsrechte aus Patientensicht geregelt werden. Die Zuordnung ist rechtlich entschieden durch die Datenschutzgrundverordnung, „alles andere ist Philosophie“, betonte ein Teilnehmer. Doch problematisch sei, dass damit viele Daten nicht für eine Sekundärnutzung zur Verfügung stehen – dies sei wichtig, um etwa die Vorteile von Künstlicher Intelligenz und der Nutzung aus Erkenntnissen von Big Data zu generieren. „Die Daten haben auch einen Wert für die Solidargemeinschaft“, betonte ein Diskussionsteilnehmer, „deshalb muss eine Sekundärnutzung ermöglicht werden.“ Dafür muss eine Regelung gefunden werden, ob für jeden Einzelfall eine Zustimmung eingeholt werden müsse oder es die Möglichkeit einer pauschalen Zustimmung gebe, sei eine juristische Frage. Ein Teil der Diskutanten hielt dabei eine Opt Out-Regelung für richtig. Andere forderten, dass Missbrauch von Daten eine harte Bestrafung nach sich ziehen müsste – dies sei auch in punkto Akzeptanz wirkungsvoller, als prospektiv weitere Probleme der Sicherheit zu diskutieren.
Gematik – Schuld an allem?
Der Gematik – und damit auch der Selbstverwaltung – wird eine zentrale Rolle bei der verpatzten Einführung der ePA zugesprochen. Ende Januar kündigte Gesundheitsminister Spahn an, sein Ministerium wolle einen Mehrheitsanteil von 51 % an dem Unternehmen übernehmen; Entscheidungen sollen nach Willen des Ministers künftig mit einfacher Mehrheit getroffen werden können.
Doch die Gematik ist als juristisch beliehene Instanz an gesetzliche Vorgaben gebunden und unterliegt dem Verwaltungsrecht. Sie habe die gesetzlichen Vorgaben einzuhalten und diese tatsächlich auch umgesetzt, betonte ein Teilnehmer der Diskussion. Ein anderer Gesprächsteilnehmer bemängelte jedoch: „Wenn man doofe Vorgaben hat, dann hilft es auch nichts, diese brav abzuarbeiten“, und fügte hinzu: „Das ist so, als wenn sagten, bitte mache einen Menschen – aber ohne Augen, ohne Ohren und ohne Hals.“ Standards würden sich nicht durch Verhandlungen entwickeln, sondern müssten staatlich vorgegeben werden. Dies zeige auch der Vergleich mit anderen Ländern: Wo eine funktionierende ePA etabliert sei, gab es immer den politischen Willen dazu und entsprechend gesetzliche Vorgaben zu ihrer Einführung. Dieser ausdrückliche Wille fehlte in Deutschland bisher. Dies untermauern auch aktuelle Studien wie die der Stiftung Münch und der Bertelsmann-Stiftung.
Die im Dezember 2018 von der Gematik vorgelegten Spezifikationen seien sehr umfangreich und wurden vom Großteil der Diskussionsteilnehmer als positiv eingeschätzt. Bemängelt wurde jedoch, dass die nun vorliegenden Spezifikationen zu einer deutschen Insellösung führten: „Wir haben eine deutsche Norm geschaffen“, so ein Teilnehmer, „das ist Stückwerk“. Es bestehe keine Kompatibilität mit anderen Ländern der EU – wie zum Beispiel Dänemark. Doch in der Kürze der Zeit, die der Gesetzgeber vorgegeben habe, sei eine internationale Abstimmung nicht möglich gewesen, wandte ein anderer Diskutant ein. Außerdem arbeite man daran, die Kompatibilität herzustellen.
Ein wenig Licht am Horizont sah ein Teilnehmer der Runde: „Immerhin wurde ein politischer Wille geäußert und es ist eine konstruktive Debatte möglich, die in den vergangenen Jahren nicht möglich war“, betonte er. Dem schloss sich ein anderer Teilnehmer an: „Es liegt jetzt etwas auf dem Tisch, mit dem wir arbeiten können.“
Werden Amazon und Co. übernehmen?
Ein klarer Nutzen und Anwenderfreundlichkeit würden die Anwendung und Akzeptanz einer ePA beschleunigen. Unternehmen wie Amazon oder Apple, deren Erfolg auf einem hohen Grad an Kundenorientierung basiert, arbeiten bereits an Geschäftsmodellen, um in den Gesundheitsmarkt einzusteigen – insbesondere in den USA.
„Ich bin froh, dass das bei uns durch die Selbstverwaltung und das Sozialgesetzbuch erschwert wird“, betonte ein Teilnehmer. Dazu komme die in Deutschland vorherrschende „Vollversorgungsmentalität“ – da Patienten gewöhnt sind, dass ihre Kosten von den Kassen übernommen werden, seien sie überwiegend nicht bereit, für Gesundheitsleistungen zu zahlen. Dies erschwere es privaten Unternehmen, sich im Gesundheitsmarkt zu etablieren und sei eine Chance, die Entwicklung selbst in die Hand nehmen zu können, die dringend ergriffen werden müsse. „Denn wenn nur 15 Prozent der Patienten Leistungen bei den Tech-Riesen in Anspruch nehmen, dürfte das System bei uns auf Grund der hohen Fixkosten zusammenbrechen“, mahnte ein Diskutant.
„Wir müssen eine Lösung entwickeln, die so gut ist, dass Amazon und Co. nicht daran vorbeikommen“, so ein Teilnehmer, „wir dürfen nicht mehr an der eierlegenden Wollmilchsau tüfteln, sondern pragmatisch vorgehen – einfach machen. Und Gas geben.“
Die Zusammenfassungen der anderen Luncheon Roundtable-Gespräche finden Sie HIER