Ein Blick in die Glaskugel und über den Tellerrand für die Versorgung von morgen
Unser Kongress am 15. Februar bot einen spannenden Blick in die Zukunft, die bereits begonnen hat. Technik, Daten, künstliche Intelligenz und Roboter: was gibt es, was kommt – und wie sollten Ärzte, Pfleger und Patienten damit umgehen?
„Die Zukunft gehört denen, die sie kommen hören“
Januar 2017: Bundesminister Gröhe fordert die Nutzung des Datenschatzes. Kanzlerin Merkel fürchtet ein digitales Entwicklungsland, behält man das bei der Entwicklung der eGK eingeschlagene Tempo bei. Und die KBV? Verkündet stolz, dass ab Juli Laboranforderungen elektronisch möglich sind – 33 Jahre nach dem Versand der ersten E-Mail, wohlgemerkt. Mit diesem Beispiel, das die Diskrepanz zwischen dem, was dringend nötig wäre, und dem, was im deutschen Versorgungsalltag Realität ist, eindrücklich illustriert, eröffnete Moderator Andreas Mihm den Kongress.
In den anschließenden Vorträgen wurde deutlich, dass die „Zukunft“ bereits begonnen hat. Die Technik entwickelt sich rasant, Mensch und Maschine nähern sich immer weiter an. Roboter können immer mehr Aufgaben übernehmen, sie denken zunehmend selbst und entwickeln sogar Intuition und Empathie. Große Datenmengen und die Möglichkeit, diese schnell und günstig auszuwerten, ermöglichen ein viel feinteiligeres Wissen und eröffnen neue Perspektiven. 90 Prozent der heutigen Berufe werden nicht mehr existieren. Diese Umwälzungen werden auch vor dem Gesundheitswesen nicht halt machen. Sie beeinflussen die Art des Arbeitens. Dagegen werden ganz neue Berufe entstehen, aber auch neue Optionen in Diagnostik und Therapie eröffnen – so wie die Präzisionsmedizin in der Onkologie. „Die Zukunft ist nicht mehr ein Zeitraum, sondern eine Denkweise“, formulierte es Referent und Zukunftsforscher Gerd Leonhard und schloss mit einem Zitat von David Bowie: „Die Zukunft gehört denen, die sie kommen hören.“
Gerd Leonhard
Die Zukunft zwischen Mensch und Maschine – die nächsten zehn Jahre
„Zukunft ist nicht mehr ein Zeitraum, sondern eine Denkweise“, so der Futurist Gerd Leonhard. Die Entwicklung der Technik verlaufe exponentiell, in den nächsten 20 werde sich mehr verändern als in den vergangenen 300 Jahren. Typisch für den Verlauf exponentieller Entwicklungen sei, dass man wisse, dass etwas kommt – erst dauere es eine Weile und dann ginge es schneller und werde größer, als man erwartet hätte. Darauf müsse man sich einstellen – und nicht mehr linear planen.
Die Entwicklung von künstlicher Intelligenz, die Möglichkeiten der Gen-Manipulation und das Internet der Dinge führen dazu, dass Science Fiction längst zu Science Facts geworden ist. Die innovativen Anwendungen werden dabei zunehmend internalisiert: Mensch und Maschine verschmelzen. Genannt seien dabei etwa die „Cyber Pills“, Tabletten, die nach der Einnahme ihre Wirkung im Körper entfalten und dabei mit dem Arzt kommunizieren. Oder intelligente Prothesen, die den natürlichen Extremitäten überlegen sind und deshalb deren Funktion ersetzen. Das Smartphone übernehme die Funktion eines „zweiten Gehirns“, die ständige Vernetzung werde immer wichtiger, „sie wird wie Wasser oder Regen“, so der Zukunftsforscher. Es sei möglich, dass in 25 Jahren die Menschen automatisch mit dem Internet verbunden sind – über einen implantierten Chip im Gehirn. Inzwischen haben Daten Öl als wertvollsten Rohstoff überholt. In der Folge entwickeln sich Algorithmen zu den größten Innovationstreibern.
Die neuen Technologien haben zur Folge, dass alles, was automatisiert werden kann, auch automatisiert werden wird. Es entstehen Maschinen mit denselben kognitiven Fähigkeiten wie Menschen. Also werden die meisten der Berufe, die wir kennen, überflüssig: In etwa zehn Jahren seien deshalb 90 Prozent der Belegschaft vieler großer Unternehmen überflüssig, so Leonhard. Stattdessen werden aber neue Berufe entstehen – doch welche, ist derzeit unklar: etwa 70 Prozent sind noch nicht bekannt.
Das Fortschreiten der Technologie ist nicht aufzuhalten. „Wir sollten die Technologie umarmen, aber nicht zu Technologie werden“, so Leonhard. Das Problem sei nicht, dass Maschinen wie Menschen werden, sondern dass Menschen wie Maschinen werden – dies gelte es zu verhindern. Er betont, dass Technologie keine Ethik habe, sondern moralisch neutral sei. Eine Gesellschaft ohne Ethik sei dagegen undenkbar. Erforderlich sei eine digitale Ethik, eine Art „Human Protection Agency“.
Sein Fazit: „Wir müssen die Technologie nutzen, aber Platz lassen für menschliche Ineffizienz“. Es müsse mehr diskutiert und ein Bewusstsein für das Neue gebildet werden, Verantwortung übernommen und Sozialkontakte erneuert werden. Und eine flexible Regulierung geschaffen werden, um sich auf ein „Zeitalter der digitalen Ethik“ vorzubereiten. „In zehn Jahren müssen wir uns vor dem schützen, was möglich ist“, so der Zukunftsforscher. Er selbst habe damit bereits begonnen – einmal im Monat hätte er einen „offline-Tag“ eingelegt.
Martin U. Müller
Was Ärzte von Journalisten in Sachen Digitalisierung lernen können
Betreffen die rasanten technologischen Fortschritte die Gesundheitsversorgung überhaupt? Oder werden Ärzte weiter arbeiten wie bisher? „Verabschieden Sie sich von dem Gedanken, Medizin sei nicht mit anderen Branchen vergleichbar“, warnte Martin U. Müller, Journalist beim SPIEGEL. Er stellte in seinem Vortrag am Beispiel des Journalismus dar, wie die Digitalisierung auch Unternehmen völlig veränderten, die einst meinten, damit nichts zu tun zu haben. Der Spiegel richtete bereits vor 23 Jahren einen Auftritt im Internet ein. Ziel war es damals, einmal in der Woche die Nachrichten zu aktualisieren. Mit dem Markteintritt von Google, Apple, Facebook oder Amazon gab es völlig neue Konkurrenten, ganz neue Anforderungen und Bedürfnisse der Leser, die es zu erfüllen galt. Neue Tätigkeiten und Berufsgruppen waren nötig, um Stand zu halten. So gebe es mittlerweile Audience Flow Development Manager, Programmierer und professionelle Sprecher – letztere sind erforderlich, um den Nutzern eine Alternative zum Lesen zu bieten. „Das sind Berufsgruppen, die man vor 20 Jahren beim Spiegel nie vermutet hätte. Wenn es sie damals überhaupt schon gab“, so Müller.
„Wir bestimmen Tempo und Entwicklung nicht mehr selbst, sondern werden getrieben.“ Man müsse aber auf die Innovationen reagieren, um sich als Unternehmen weiter zu behaupten: „Kaum ein Leser geht mehr zum Kiosk, um eine Zeitschrift zu kaufen.“ Hier zog er eine Parallele zur Medizin: „Auch Patienten werden nicht mehr bereit sein, zum Arzt zu gehen, wenn es nicht sein muss.“
Entsprechend müsse auch in der Medizin darüber nachgedacht werden, ob die althergebrachten Berufsbilder künftig noch passen. Denn mittlerweile gebe es viele neue Technologien – ebenso wie im Journalismus getrieben von Google, Apple und Co., die es ermöglichen, dass Tätigkeiten von Apps und digitalen Helfern erledigt werden können, für die bisher ein Arzt nötig war – und es nun nicht mehr ist. So gibt es zum Beispiel eine App, die das Smartphone in ein Stethoskop verwandelt – und nicht nur die Geräusche hörbar macht, sondern sie auch deuten kann. In einem Projekt wurde die individuelle Nutzung der Computertastatur getestet, herausgekommen ist eine Möglichkeit, mittels Veränderungen im Laufe der Zeit zuverlässig eine beginnende Demenz zu erkennen – besser als dies mit dem derzeit verwendeten Mini-Mental-Test möglich ist. „Denken Sie über eine Anpassung der Berufsbilder nach, zum Beispiel so etwas wie Chatbot-Technician oder Medical Deep-Learning Expert“, so Müller. Zudem erhöhe sich durch die Vernetzung der Patienten untereinander deren Wissen – und liege bei speziellen Erkrankungen nicht selten über dem des aufgesuchten Arztes.
Müller gab den Zuhörern mit auf den Weg: „Interessieren Sie sich für alles, was nichts mit Medizin zu tun hat. Es wird Sie möglicherweise betreffen.“
Michael Decker
Übernehmen Roboter die Versorgung? Chancen, Akzeptanz und ein Blick nach Japan
Japan scheint beim Einsatz der neuen Möglichkeiten, die die Robotik für die Gesundheitsversorgung bietet, weit voraus. Die dort höhere Akzeptanz, große Teile der Versorgung Robotern zu überlassen, habe zwei Gründe, erläuterte Professor Michael Decker, Leiter des Bereichs Informatik, Wirtschaftswissenschaften und Gesellschaft am Karlsruher Institut für Technologie: zum einen gebe es eine Aversion gegen Zuwanderung, zum anderen sei der Umgang mit Robotern durch die aus Mangas bekannten und beliebten Wesen geprägt und damit positiv belegt.
Technische Innovation leitet jedoch per se kreative Zerstörung im Schumpeterschen Sinne ein. Sie führe am Ende immer zu Gewinnern und Verlieren. Der zunehmende Einsatz von Robotern werfe aber darüber hinaus viele Fragen auf, für die Lösungen gefunden werden müssen – so wie auch Leonhard in seinem Vortrag in Bezug auf digitale Ethik. Dabei müsse definiert werden, welche Ersetzungsverhältnisse vorliegen – sie können ökonomisch, rechtlich oder ethisch sein. Dabei sei ethische Reflexion grundsätzlich kulturell bedingt, während die technische Entwicklung nur global betrachtet werden könne.
Eine Empfehlung sei es, dass Roboter im Sinne von Durchschaubarkeit, Vorhersehbarkeit und Beeinflussung kontrollierbar seien, damit Menschen die Verantwortung für ihr Funktionieren übernehmen können. Erhalten die Roboter eigene Entscheidungsspielräume, sollten die davon betroffenen Personen darüber aufgeklärt und ihre ausdrückliche oder stillschweigende Zustimmung geben müssen. Insbesondere bei medizinischer Behandlung und Pflege solle die Verweigerung dieser Zustimmung eine Vetofunktion haben.
Viele Innovationen aus der Robotik für den Gesundheitsbereich hat es in Deutschland bereits gegeben. Doch umgesetzt wurde nur ein Bruchteil davon. In Deutschland bestehe eine höhere Innovationschance, wenn zuvor eine ausführliche Bedarfsanalyse durchgeführt würde. Das heißt, es sei wichtig, nicht die Innovation als Selbstzweck zu entwickeln und anschließend zu versuchen, sie Nutzern irgendwie „überzustülpen“, sondern stattdessen zuvor die Bedürfnisse der beteiligten Akteure zu ermitteln und daraus die Anforderungen an die Innovation zu entwickeln.
Weiter führte Decker aus, dass lernende Systeme sich an die Umgebung anpassen müssten. Der Umgebung und den umgebenden Personen kommt damit eine zentrale Funktion zu. Der Software-Sieg von Googles AlphaGo im Go-Spiel markiere diesbezüglich einen Wendepunkt: Er zeigt, dass nun auch Menschen von Maschinen lernen – die wiederum von Menschen geschult wurden. Das künstliche neuronale Netzwerk wurde zunächst in 30 Millionen Zügen von menschlichen Spielern geschult. Darauf aufbauend führte es 1.000 Spiele gegen sich selbst durch. Beim Spiel gegen die Menschen vollzog das System dann Spielzüge, die völlig neu, unüblich waren und die menschlichen Spieler ins Staunen versetzte – und gewann. Wenn jedoch ein lernendes System in der Lage ist, aus seinem Wissen neue Schlüsse zu ziehen, so sei es entscheidend, in welchem Anwendungskontext es das tue. „Wenn der Roboter im Go-Spiel neue Züge entwickelt, finde ich das spannend. Wenn das selbstfahrende Auto neue Dinge ausprobiert, möchte ich eher keine Überraschung erleben“, so Decker.
Auch muss geklärt werden, wo die Verantwortlichkeiten liegen. Decker führte das Beispiel eines OP-Roboters auf, der bei einer Leberoperation drei verschiedene Schnittführungen als am besten geeignet vorschlägt. Der Chirurg, der die Operation durchführt, kann diese aber nicht und führt deshalb den Eingriff anders aus. Fällt das Ergebnis der Operation danach nicht gut aus, wie kann man dem Patienten gegenüber vertreten, was geschehen ist? „Der Chirurg wird der Meinung sein, dass der Roboter sein System ist, er also dessen Vorschläge nicht kommunizieren muss“, so Decker. Hier liege ein Fehler.
Ran Balicer
Data-driven Care: Innovation in Practice
Mit Datenschutz zum Datenschatz – Bundesgesundheitsminister Gröhe äußerte im Januar gegenüber der FAZ klar, dass man die Chancen der Digitalisierung nutzen müsse. Wie das gelingen kann, zeigt ein Blick nach Israel: Dort werden die Daten bereits genutzt, um Qualität und Effizienz der Gesundheitsversorgung zu verbessern.
„Allein großartige Ärzte und gute Absichten sind kein Garant für exzellente Behandlungsqualität“, betonte Ran Balicer, Direktor der Abteilung Gesundheitspolitik der israelischen Krankenversicherung mit eigenen Leistungserbringern, Clalit, und Gründungsdirektor von Clalit Research. In 30 Prozent der Fälle seien Behandlungen überflüssig, in 45 Prozent würden notwenige Interventionen dagegen versäumt – und Fehlbehandlungen seien auf der Liste der Todesursachen auf Rang 3 zu finden. Bei zunehmender Nachfrage durch die Alterung der Gesellschaft laufen zudem die Kosten aus dem Ruder. Deshalb wurde Clalit beauftragt, die Qualität und Effizienz der Versorgung zu verbessern.
Über 4,2 Millionen Menschen sind bei Clalit eingeschrieben, ein Marktanteil von 53 Prozent. Clalit verfügt unter anderem über 30 Prozent der Krankenhausbetten und ist in Israel führend in Telemedizin und Online Services. Der Staat finanziert jeden Versicherten mit einem festen Betrag aus Steuergeldern – damit habe Clalit dasselbe Interesse wie die Versicherten und Patienten, so Balicer: Gesundheit erhalten, unnötige Medikamentengabe verhindern und Wiedereinweisungen nach einem Krankenhausaufenthalt vermeiden. Der Schlüssel, um die dazu erforderlichen Veränderungen im Gesundheitssystem zu erreichen – zum Beispiel Überwindung der Silostrukturen, mehr Prävention und mehr Patientenorientierung – liege in der konsequenten Nutzung der Versorgungsdaten, zeigt sich Balicer überzeugt.
Anhand der Daten können etwa Wirksamkeit von Medikamenten nachgewiesen oder Schwellenwerte validiert und damit die Dosierung angepasst werden. Als Beispiel nannte Balicer den Einsatz von Statinen zur Senkung des LDL-Werts bei Patienten mit ischämischen Herzerkrankungen: Wo muss er liegen, um schwere kardiale Ereignisse zu vermeiden? Weltweit gab es unterschiedliche Richtwerte, von 200 in den USA bis hin zu „je niedriger, desto besser“ in Europa. Balicer und sein Team untersuchten die Daten von Patienten. Die Ergebnisse – publiziert im renommierten JAMA Internal Medicine – zeigten, dass es ausreicht, Statine einzusetzen, bis ein Wert von 90 erreicht ist. Die Anpassung der Richtlinie und die damit verringerte Dosierung des Medikaments können Millionen Dollar in allen Gesundheitssystemen einsparen, so Balicer.
Die Daten werden auch eingesetzt, um Erkrankungen zu vermeiden. Dies kommt in Israel zum Beispiel Menschen zu Gute, die das Risiko zur Entwicklung von Nierenversagen tragen. Die Datenanalyse ergab, dass 70 Prozent der Patienten, die eine Nierenersatztherapie benötigen, zu einer Subgruppe gehören, die acht Prozent der Bevölkerung ausmacht. Der Verlauf der Erkrankung kann gestoppt werden – allerdings nur, wenn die Behandlung in einem Stadium beginnt, in dem der Patient noch keine Symptome hat, also noch nichts von seinem Risiko weiß. Seit fünf Jahren werden deshalb die Daten überprüft – Personen, die zur Risikogruppe gehören, werden von ihrem Hausarzt kontaktiert.
So kann ihnen durch frühzeitige Intervention die Dialyse erspart werden – ein Gewinn an Lebensqualität. Und Effizienz. Weitere Verbesserungen, die durch die Datenanalyse erreicht werden: Nutzlose Interventionen können aufgedeckt werden, die Genauigkeit von Testverfahren erhöht und die Konsequenzen aus falschen oder fehlenden Behandlungen gezogen werden. Auch die Fähigkeit zur Selbst-Fürsorge der Patienten wird verbessert.
In der Diskussion kam die Frage nach dem Datenschutz auf. Balicer betonte, dass dieser ernst genommen wird: Man sei einerseits sehr offen, weil alle Daten genutzt werden. Andererseits sei man sehr verschlossen – die Nutzung findet nur innerhalb des Systems statt, wo die Daten auch liegen. Eine Schatztruhe.
Michael Hallek
Präzisionsmedizin in der Onkologie: Prinzipien und strukturelle Anforderungen
Auch Michael Hallek setzt sich für eine Verwendung der Daten zur Verbesserung der Patientenversorgung ein: „Man kann die Patienten nicht zwingen, ihre Daten nicht herzugeben“, betonte der Arzt, der als Direktor die Medizinische Klinik I für Innere Medizin der Universität zu Köln leitet und als einer der führenden Experten in der Präzisionsmedizin gilt.
Präzisionsmedizin oder personalisierte Medizin – „die richtige Therapie zur richtigen Zeit für den richtigen Patienten“, so formulierte es der ehemalige amerikanische Präsident Barack Obama. Er unterstrich in einer Rede im Januar 2015 die Bedeutung der neuen Möglichkeiten – und stellte 2016 215 Millionen Dollar bereit, um die Präzisionsmedizin voranzubringen.
Auch hinter der Präzisionsmedizin steht das Vorhandensein großer Datenmengen: durch die Sequenzierung von Genabschnitten oder ganzen Genomen entstehen pro Patient Terabyte von Daten, die sich individuell unterscheiden – eine enorme Komplexität. „Doch wir nähern uns der Lösung“, so Hallek. Denn Sequenzierung ist mittlerweile nicht nur schnell möglich, sondern auch zu überschaubaren Kosten. Ein gesamtes Genom kann inzwischen für etwa für 1.500 Dollar sequenziert werden. Zur Jahrtausendwende kostete es noch Millionen. Und damit kann die Sequenzierung nunmehr therapeutisch genutzt werden. Dies geschieht besonders in der Onkologie, da Veränderungen im Erbgut immer die Ursache von Krebs sind.
Die vielen einzelnen Informationen führen mithin dazu, dass es nicht mehr den einen Krebs gibt: Statt eines Krebs gibt es Tausende Arten. Jeder einzelne Tumor hat eine eigene Genetik, die sich zudem verändern kann – zur initialen Veränderung von Zellen kommen im Laufe der Zeit weitere hinzu, dies bei jedem Patienten. Doch die Unzahl an Veränderungen kann strukturiert und in eine überschaubare Menge von ursächlichen Störungen eingeteilt werden.
Mit der genauen Kenntnis besteht die Möglichkeit, die Erkrankung gezielt zu bekämpfen. Erste Erfolge gab es in der Behandlung der Chronisch Myeloischen Leukämie, die mittlerweile mit einem Antikörper in vielen Fällen geheilt werden kann. In diesem Beispiel ist das einfacher, weil nur ein einziger Fehler zu dieser Krebsentstehung führt. Beim Lungenkrebs dagegen gibt es eine Vielzahl an Genen, deren Veränderung Ursache für die Entartung der Zelle sein können. Sie können aber verschiedenen Gruppen zugeordnet werden – je nachdem, welcher Signalweg betroffen ist, kann das geeignete Medikament eingesetzt werden. So können Patienten, deren Krebs durch Sequenzierung untersucht wurde, gezielt behandelt werden.
Die neuen Formen der Therapie führen nach Ansicht des Experten zu einer zunehmenden Ambulantisierung in der Onkologie. Außerdem sei es für die Krebstherapie in der Zukunft nötig, die Forschung in ein lernendes System einzubringen und Erkenntnisse aus der Patientenbehandlung („pattern recognition“) schnell zu erfassen. Dazu sind vernetzte Strukturen erforderlich – und eine Aufhebung der Sektorengrenze.
Umgesetzt werden soll dies am Centrum für Integrierte Onkologie Köln Bonn (CIO), das als regionales Netz molekularer Therapie funktioniert. Alle Patienten werden bereits auf bekannte Mutationen sequenziert und die passende Behandlung darauf abgestimmt. „Zum Teil können wir so die Überlebensrate von acht auf 30 Monate erhöhen“, so Hallek. Es gebe aber auch Fälle, in denen sich so von vornherein herausstellt, dass die Therapie wenig Aussichten auf Erfolg hat.
Das CIO soll deutschlandweit ausgerollt werden, Förderanträge können noch eingereicht werden. Hallek rief ausdrücklich alle Universitätskliniken auf, sich zu beteiligen. Wenn etwa jedes beteiligte Zentrum sich auf eine Krebsart spezialisiere, könne man eine Wertegemeinschaft zur Förderung großer Patientengruppen bilden. Dies sei auch die Chance, Deutschland auf diesem Gebiet wieder international führend zu machen. Denn in den USA wären alle Zentren Konkurrenten. „Wir sollten das Feld nicht den USA überlassen“, so Hallek. Die Bedeutung sei immens: „ Durch die demografische Entwicklung werden wir einen Anstieg der Krebserkrankungen von mindestens 70 Prozent in den nächsten 20 Jahren haben. Wir müssen uns also mit Krebs befassen.“ Die Technik zur Weiterentwicklung der Präzisionsmedizin sei vorhanden und auch das Expertenwissen. Problematisch seien die regulatorischen Rahmenbedingungen – und derzeit auch ein Mangel an medizinischen Informatikern. Der nächste Schritt sei es, Gelder bereit zu stellen – analog zu Obamas Weichenstellung in den USA.
Bei all den Chancen, die sich daraus ergeben, dürfen wir nicht den globalen Blick aus den Augen verlieren. Die personalisierte Therapie sei noch teuer. Werde hierzulande ein Patient selbstverständlich behandelt, in einem anderen Land jedoch aus Kostengründen nicht, führe dies zu globalen Verteilungskämpfen. „Jeder Patient mit Krebs muss vom derzeit verfügbaren Wissen der Menschheit profitieren – ohne Einschränkungen.“
Sebastian Schmidt-Kaehler
Health Care Usability: nutzerfreundliche Gesundheitsversorgung in der Multioptionsgesellschaft
Der Patient steht stets im Mittelpunkt – dieser Claim ziert die Broschüren fast aller Leistungserbringer. Doch für die Patienten stellt sich das in der Realität meist anders dar. Er trifft auf ein starres System und fühlt sich – wie Michael Hallek es in seinem Vortrag formulierte – oft wie die Kugel in einem Flipperautomaten. Patienten stoßen auf ihrem Behandlungspfad auf Widerstände, Bruchstellen und Hürden, die sie überfordern. So fasste Sebastian Schmidt-Kaehler, Geschäftsführender Gesellschafter der Patientenprojekte GmbH, den Ist-Zustand zusammen. Patienten sind überfordert mit der Beurteilung der zahlreichen Informationen, zu denen sie Zugang haben. Sie sind auch überfordert mit dem erforderlichen Selbstmanagement, das nötig ist, um zum Beispiel Anträge zu stellen, den Alltag zu organisieren, Medikamente zur rechten Zeit einzunehmen oder medizinische Anbieter zu suchen. Kurz: es mangelt ihnen an Gesundheitskompetenz, „Health Literacy“.
Gesundheitskompetenz umfasst das Wissen sowie die Motivation und die Fähigkeiten von Menschen, Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden, um im Alltag in gesundheitsrelevanten Bereichen Entscheidungen treffen zu können. Sie ist wichtig – denn es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen Gesundheitskompetenz und dem Gesundheitsstatus. Untersuchungen zeigen, dass es um die Gesundheitskompetenz der Deutschen aber schlecht bestellt ist: Mehr als die Hälfte der Deutschen hat Schwierigkeiten im Umgang mit Gesundheitsinformationen. Schmidt-Kaehler betonte, dass es sich dabei um kein „weiches Thema“ handelt: „Durch die mangelnde Fähigkeit, etwa die Anweisungen zur Einnahme von Medikamenten zu befolgen oder herauszufinden, wo professionelle Hilfe ist, entstehen in Deutschland jedes Jahr Kosten von 15 bis 20 Milliarden Euro.“
Der mündige Patient wird gefordert. Doch Demokratisierung bedeute nicht nur mehr Entscheidungsfreiheit, sondern auch mehr Verantwortung und Entscheidungslast. Dazu müssen die Patienten erst in die Lage versetzt werden. Denn das Gesundheitssystem wird immer komplexer, digitale Angebote kommen hinzu – es entstehen für die Patienten immer mehr Optionen und Entscheidungsnotwendigkeiten. Erforderlich sei “Healthcare Usability“, also Nutzerfreundlichkeit oder „Gebrauchstauglichkeit“ der Gesundheitsversorgung. Dazu zählen ein niederschwelliger Zugang, leicht verständliche Kommunikation, verständliche Informationen und Formulare sowie einfache Verfahren, Prozesse und geeignete Navigationshilfen. Entstehen könne Healthcare Usability nur durch ein konzertiertes Zusammenspiel und ein Umdenken der relevanten Akteure.
Ein Beispiel aus den USA führte Schmidt-Kaehler aus: Dort gibt es die Initiative „ask me three“: „(1) Was ist mein Problem? (2) Was muss ich tun? (3) Warum ist es wichtig, dass ich das tue?“ Patienten werden trainiert, genau diese drei Kernfragen zu stellen. Sogar Schilder in Kliniken erinnern daran. Ärzte fragen nach dem Gespräch ab, ob die Botschaften angekommen sind. Ergebnis: Der Lernprozess der Patienten konnte verdreifacht werden. Dabei nahm sogar die Dauer des Arzt-Patienten-Gesprächs um zwölf Prozent ab. Ein deutlicher Beweis, dass gute Kommunikation nicht immer hohen zeitlichen Aufwand bedeutet“, betonte Schmidt-Kaehler.
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Referenten und Vorträge
- Prof. Dr. Boris Augurzky
Wissenschaftl. Geschäftsführer Stiftung Münch
Den Vortrag finden Sie HIER - Gerd Leonhard
Futurist, Humanist, Autor, Keynote Speaker, CEO The Futures Agency, Zürich (Lebenslauf)
Den Vortrag finden Sie HIER
- Prof. Dr. Ran Balicer
Director Clalit Research Institute
Director Health Policy Planning Department, Clalit Health Services, Israel
Associate Professor, Public Health Department, Faculty of Health Sciences; Ben-Gurion University of the Negev, Israel
(Lebenslauf)
Den Vortrag finden Sie HIER
- Prof. Dr. Michael Decker
Professor für Technikfolgenabschätzung, Institutsleiter Bereich II Informatik, Wirtschaft und Gesellschaft, Karlsruher Institut für Technologie KIT
(Lebenslauf) - Prof. Dr. Michael Hallek
Direktor der Klinik I für Innere Medizin der Universitätsklinik zu Köln
Direktor des Centrums für Integrierte Onkologie Köln Bonn (CIO)
(Lebenslauf) - Dr. Sebastian Schmidt-Kaehler
Geschäftsführender Gesellschafter Patientenprojekte GmbH
Mitglied Expertenrat zum Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz in Deutschland
(Lebenslauf)
Den Vortrag finden Sie HIER - Martin U. Müller
Redakteur DER SPIEGEL
(Lebenslauf)Moderation: - Andreas Mihm
Korrespondent der F.A.Z. in Berlin
Schwerpunkt Gesundheits-, Wirtschafts- und Energiepolitik
zum Lebenslauf